– von Andreas Rinke und Kate Abnett
Versailles (Reuters) – Angesichts der Invasion Russlands in der Ukraine sucht die EU nach einer Neupositionierung gegenüber beiden Ländern: So soll die Energieabhängigkeit von Russland schneller reduziert werden als bisher beabsichtigt.
Gleichzeitig soll die Ukraine näher an die EU herangeführt werden – ohne aber in absehbarer Zeit Mitglied werden zu können. Das zeichnete sich auf dem informellen zweitägigen EU-Gipfel ab, der am Donnerstagnachmittag in Versailles begann. Fast alle der 27 Staats- und Regierungschefs übten scharfe Kritik an Russland und forderten eine sofortige Waffenruhe. Kanzler Olaf Scholz beschwor die Einheit der EU als wichtige Voraussetzung dafür, Druck auf Russland für eine diplomatische Lösung ausüben zu können. Zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron hatte er am Vormittag mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert.
Am Abend twitterte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass die EU-Kommission in Kürze vorschlagen werde, dass die Gasspeicher in der EU künftig zum 1. Oktober zu 90 Prozent gefüllt sein müssen. Dies soll garantieren, dass die EU-Staaten auch bei einem Stopp russischer Gaslieferungen durch den nächsten Winter kommen. Zudem gibt es eine Debatte, wann die EU-Staaten kein Gas, Öl und Kohle mehr vor Russland beziehen sollen. Im Gespräche sind die Jahre 2030 und 2027.
Auch Macron forderte, dass sich die EU für die Zukunft vor allem in den Bereichen Verteidigung und Energie wappnen und die Abhängigkeit von Russland reduzieren müsse. Von dem Gipfel in Versailles müssten Arbeitsaufträge an die EU-Kommission ausgehen, damit dann auf dem regulären EU-Gipfel Ende März Beschlüsse gefasst werden könnten.
Thema der Beratungen ist deshalb auch der französische Vorschlag für einen erneuten EU-Hilfsfonds nach dem Vorbild des Corona-Wiederaufbaufonds, mit dem die europäische Verteidigung und Energie-Versorgungssicherheit gestärkt werden soll. Der Corona-Fonds hat ein Volumen von 750 Milliarden Euro, die EU-Kommission kann dabei selbst Kredite aufnehmen. In etlichen EU-Staaten wie den Niederlanden stieß der französische Vorschlag aber auf Skepsis. Die Bundesregierung will auf nationaler Ebene einen ähnlichen Weg gehen und will für ein Sondervermögen Bundeswehr einmalig 100 Milliarden Euro Schulden aufnehmen. Vorsichtig Zustimmung zu verstärkten Investitionen auf europäischer Ebene kam vom österreichischen Bundeskanzler Karl Nehammer. “Wenn man in der Krise investiert, sorgt vor, dass es danach wieder Wachstum geben kann”, sagte er.
ENGE BEZIEHUNGEN ZUR UKRAINE – KEINE SCHNELLE MITGLIEDSCHAFT
Gleichzeitig versucht die EU der Ukraine stärker zu helfen, dämpft aber die Hoffnungen des Landes auf einen schnellen EU-Beitritt. In dem Entwurf der Gipfelerklärung ist von einer engeren Anbindung die Rede. Man wolle unabhängig von einer Beitrittsprüfung die Beziehungen stärken und die Partnerschaft mit der Ukraine vertiefen, heißt es. EU-Diplomaten hatten zuvor statt eines Beitritts für die Ukraine eine “Assoziierung plus plus” ins Gespräch gebracht, also eine engere Anbindung der Ukraine an den EU-Binnenmarkt unterhalb der Beitrittsschwelle. “Die Ukraine gehört zur europäischen Familie”, wird in der neuen Fassung für die Gipfel-Erklärung nun aber betont.
Auch zahlreiche Staats- und Regierungschefs äußerten sich vor Beginn des zweitägigen EU-Gipfels in Versailles in diesem Sinne. Man solle bei dem bisher beschlossenen Pfad bleiben, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz und verwies auf das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. “Es gibt keine Abkürzung. Einige Westbalkan-Länder bemühen sich seit zehn Jahren, EU-Mitglied zu werden, denken Sie an Albanien und Nordmazedonien”, sagte der niederländische Regierungschef Mark Rutte. Einige osteuropäische EU-Staaten dringen aber wie die Ukraine selbst auf einen schnellen Beitritt des Landes nach dem Angriff Russlands.
Der EU-Beitritt der Ukraine braucht aber Zeit, sagte auch der französische Europaminister Clement Beaune. “Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir eine EU haben werden, die in den nächsten Jahren – ich weiß nicht, wann – wahrscheinlich um die Ukraine, Moldawien, Georgien und vielleicht andere Länder erweitert wird”, sagte er im Radiosender France Inter. Er sei aber davon überzeugt, dass die EU in ihrer gegenwärtigen Form nicht in der Lage sein werde, mit 45 oder 60 oder 70 Millionen mehr Einwohnern zu funktionieren.
Auch Scholz verwies darauf, dass die EU sich selbst zukunftsfähig machen müsse. Dazu gehörten Mehrheitsentscheidungen unter den EU-27. “Wir brauchen eine EU, die sich perspektivisch weiterentwickelt”, sagte er vor Beginn des Gipfels. Zu einem Medienbericht wonach sich Altkanzler Gerhard Schröder zu einem Vermittlungsversuch in Moskau aufhält, wollte sich Scholz nicht äußern.