Baerbock in der Ukraine – “Diese Opfer könnten wir sein”

– von Tom Balmforth und Alexander Ratz

Kiew/Berlin (Reuters) – Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ist als erstes deutsches Regierungsmitglied seit Kriegsbeginn in die Ukraine gereist und hat eine lückenlose Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gefordert.

Die Grünen-Politikerin verschaffte sich am Dienstag zunächst einen Eindruck in Butscha und in Irpin, zwei Vororte der Hauptstadt Kiew, in denen russische Soldaten Gräueltaten an der Zivilbevölkerung begangen haben sollen. Baerbock zeigte sich tief bewegt und forderte, die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. “Das sind wir den Opfern schuldig”, sagte Baerbock. “Und diese Opfer, auch das spürt man hier so eindringlich, diese Opfer könnten wir sein.”

In Kiew traf Baerbock am Mittag mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba zusammen. Bei der anschließenden Pressekonferenz kündigte die Ministerin an, dass die deutsche Botschaft in Kiew ihre Arbeit wieder aufnehmen werde. Die Vertretung werde zunächst einen “eingeschränkten Betrieb” fahren und in einer “Minimalpräsenz” arbeiten. “Ich bin heute wirklich froh, nicht nur als Außenministerin, sondern als Freundin hier in Kiew zu sein und vor allen Dingen in einem freien Kiew zu sein”, sagte Baerbock. “Und um es ehrlich zu sagen, in den finsteren Tagen nach dem 24. Februar hatte ich Zweifel, ob ich diesen Satz so bald sagen würde.”

Baerbock bekräftigte, Deutschland stehe “unverrückbar an der Seite der Ukrainer und des freien Kiews”. Zugleich werde Deutschland mit aller Konsequenz seine Abhängigkeit von russischen Energieträgern auf null reduzieren, “und zwar für immer”. Mit Blick auf den weiteren Kurs der Ukraine stellte die Ministerin dem Land eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union in Aussicht. Auf dem Weg dahin könne es aber “keine Abkürzung” geben, sagte Baerbock. Zudem brauche die EU selbst eine Reform, um die Ukraine als Vollmitglied aufnehmen zu können. Sie sei zuversichtlich, dass die Ukraine einen “klaren Kandidatenstatus” erhalten werde, auf dem weiteren Weg dürfe es aber “keine leeren Versprechungen” geben.

Bei ihrem Besuch in Kiew wurde Baerbock teilweise von dem niederländischen Außenminister Wopke Hoekstra begleitet. Beide EU-Staaten liefern der Ukraine insgesamt zwölf Panzerhaubitzen 2000, Deutschland davon sieben. Dazu sollen ukrainische Soldaten entsprechend in Deutschland ausgebildet werden. Baerbock kündigte an, damit werde “dieser Tage” begonnen. Und die Haubitzen würden in der Ukraine ankommen, bevor die Ausbildung der Soldaten abgeschlossen sei. Dann könnten sie das Gerät sofort nach ihrer Rückkehr in den Krieg bedienen. Kuleba dankte Deutschland für die Unterstützung. Es gebe “einige Fragen, in denen wir kontinuierliche Diskussionen führen”, sagte er. Er sei aber zuversichtlich, dass es für alles eine Lösung geben werde.

Am Nachmittag kam die Ministerin in Kiew auch mit Präsident Wolodymyr Selenskyj zusammen. Aus Delegationskreisen hieß es, es habe ein “offenes, freundliches Gespräch” gegeben, an dem auch der Niederländer Hoekstra teilgenommen habe. Im Mittelpunkt standen demnach die Frage weiterer militärischer Hilfe für die Ukraine, der erforderliche Wiederaufbau des Landes sowie eine Lösung der Blockade ukrainischer Häfen, um dringend benötigte Nahrungsmittel exportieren zu können.

“DIESEN SCHMERZ KANN NIEMAND NEHMEN”

In Butscha waren ukrainischen Behörden zufolge während der einen Monat dauernden russischen Besatzung Hunderte Zivilisten getötet worden. Nach dem Abzug der russischen Soldaten wurden in dem Ort die Leichen von mehr als 400 Menschen gefunden, einige waren gefesselt und sollen auch andere Hinweise auf Hinrichtungen oder Misshandlung aufgewiesen haben. Auch andernorts gab es ähnliche Entdeckungen. Die russische Regierung weist die Verantwortung für die Taten zurück. Baerbock sprach in Butscha von “Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Es sei ein Ort, an dem “die schlimmsten Verbrechen” verübt worden seien. “Und deswegen ist es mir unglaublich wichtig, heute hier zu sein.” Bearbock wurde begleitet von der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa, die die Vorfälle untersucht. Ihr habe Baerbock “Deutschlands volle Unterstützung bei der Aufklärung der Kriegsverbrechen zugesichert: politisch, finanziell und personell”.

Baerbock äußerte sich in Butscha in einer orthodoxen Kirche sichtlich ergriffen. Es sei ersichtlich, “wie groß der Schmerz ist, und diesen Schmerz kann niemand nehmen”, sagte die Ministerin. Es sei aber jetzt wichtig, “der Welt deutlich zu machen, was für Verbrechen passiert sind”. Sie zeigte sich entschlossen: “Wir können für Gerechtigkeit sorgen.” Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Baerbock damit beauftragt, in die Ukraine zu reisen, um die Solidarität Deutschlands mit dem Land zu untermauern. Scholz selbst plant auch eine Reise, nachdem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Kanzler und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eingeladen hat.

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