– von Pavel Polityuk
Kiew (Reuters) – Die Ukraine rechnet mit einer gewaltigen neuen russischen Offensive auf die Industriestadt Sjewjerodonezk.
Dort wüteten bereits jetzt die bislang heftigsten Kämpfe, sagte der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Gaidai, am Mittwoch im Fernsehen. Möglicherweise müssten sich ukrainische Soldaten auf für sie stärkere Positionen zurückziehen. Die Stadt werde aber nicht aufgegeben. Es sei damit zu rechnen, dass Russland die Bombardierung von Sjewjerodonezk und der Zwillingsstadt Lyssytschansk verstärken werde. Die beiden Städte befinden sich in der Region Luhansk, die im Osten der Ukraine liegt und zusammen mit der Region Donezk den Donbass bildet. Dort konzentriert das russische Militär seit Wochen seine militärische Offensive.
Das Hauptziel Russlands in den kommenden Tagen bestehe darin, Sjewjerodonezk einzunehmen und damit die strategisch wichtige Straße von den Städten Bachmut und Lyssytschansk vollständig abzuschneiden, sagte Gaidai. “Die Kämpfe werden sehr heftig sein.” Reuters konnte die Entwicklung vor Ort nicht überprüfen.
Das ukrainische Militär wirft Russland aber auch die Zerstörung von landwirtschaftlich genutzten Flächen in der Region Mykolaiw vor. “Diejenigen, die vorgeben, besorgt über die Welternährungskrise zu sein, greifen in Wirklichkeit Ackerland und Infrastrukturstandorte an”, erklärte das Militärkommando im Süden der Ukraine auf Facebook. Es seien Brände von beträchtlichem Ausmaß ausgebrochen. Die russische Regierung bestreitet die Verantwortung für die internationale Nahrungsmittelkrise und macht westliche Sanktionen dafür verantwortlich. Die Ukraine ist einer der größten Getreideexporteure weltweit. Wegen der Sperrung der ukrainischen Seefahrtswege durch die russische Marine kann das Land aber derzeit kein Getreide exportieren.
Während die Auswirkungen des Krieges auf der ganzen Welt zu spüren sind, haben die Vereinigten Staaten weitere Sanktionen gegen Moskau verhängt. Die Regierung verbot US-Geldverwaltern den Kauf russischer Schuldtitel oder Aktien auf Sekundärmärkten. Die Weltbank wiederum bewilligte 1,49 Milliarden Dollar an neuen Mitteln für die Ukraine. Mit dem Geld sollen die Löhne von Regierungs- und Sozialarbeitern bezahlt werden, weil das Land infolge des Krieges wirtschaftlich am Boden liegt. Auch die G7-Staaten haben der Ukraine umfangreiche Finanzhilfen zugesagt.
SELENSKYJ KÜNDIGT “BUCH DER HENKER” AN
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte ein Informationssystem an, um Daten über mutmaßliche russische Kriegsverbrecher zu erfassen. Im “Buch der Henker” sollten bestätigte Angaben über Kriminelle aus der russischen Armee zusammengetragen werden, erklärte er in einer Videoansprache. “Es handelt sich um konkrete Fakten zu konkreten Personen, die sich konkreter, grausamer Verbrechen gegen Ukrainer schuldig gemacht haben.” Selenskyj verwies dabei auf mutmaßliche Verbrechen in dem Ort Butscha bei Kiew. Russische Beamte haben die Bilder der Ereignisse in Butscha als “Fälschungen” abgetan, die von den ukrainischen Behörden inszeniert wurden, nachdem die russischen Streitkräfte die Stadt Ende März verlassen hatten. Westliche Staaten weisen das zurück und sehen massive Menschenrechtsverletzungen. Deutschland hat Hilfe bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen angeboten.
Nach Angaben der ukrainischen Staatsanwaltschaft wurden seit Beginn der Offensive Russlands in der Ukraine am 24. Februar mehr als 12.000 mutmaßliche Kriegsverbrechen registriert, an denen mehr als 600 Verdächtige beteiligt waren. Selenskyj sagte, es sei ein Schlüsselelement seines langjährigen Versprechens, russische Soldaten zur Rechenschaft zu ziehen, die für Morde, Vergewaltigungen und Plünderungen verantwortlich seien.
Die russische Führung spricht von einer “Spezialoperation” im Nachbarland. Die Ukraine und westliche Staaten werfen Moskau einen Angriffskrieg vor, der mittlerweile Zehntausende Menschen das Leben gekostet hat. Nach Angaben aus russischen Polizeikreisen sollen mehr als 1000 gefangengenommene ukrainische Soldaten für Ermittlungen nach Russland gebracht worden seien. Es handele sich um Soldaten, die in Mariupol ihre Waffen niedergelegt hätten, meldet die Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf die Polizeikreise. Später sollten auch weitere ukrainische Gefangene nach Russland gebracht worden. Einige russische Abgeordnete haben verlangt, die ukrainischen Soldaten aus Mariupol vor Gericht zu stellen.
(Reuters-Büros; geschrieben von Andreas Rinke; redigiert von Sabine Ehrhardt. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)