– von Pavel Polityuk und Abdelaziz Boumzar
Kiew/Slowjansk (Reuters) – Das Schicksal des Donbass im Osten der Ukraine entscheidet sich nach den Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj mit der Schlacht um die Industriestadt Sjewjerodonezk.
“Das ist ein sehr brutaler Kampf, sehr hart, vielleicht der schwierigste in diesem ganzen Krieg”, erklärte Selenskyj in einer Videobotschaft am Donnerstag. Hauptkriegsschauplatz in der Region bleibe Sjewjerodonezk. “Im wesentlichen ist es hier, wo über das Schicksal unseres Donbass entschieden wird.”
Der ukrainische Generalstab teilte am Donnerstag mit, die russische Armee greife mit Artillerie und Mehrfachraketenwerfern an und ziele in Sjewjerodonezk und anderen Orten auf die zivile Infrastruktur. Russland weist Vorwürfe zurück, nichtmilitärische Ziele anzugreifen. Nach den Worten von Militär-Kommandeur Petro Kusyk wird um jedes Haus gekämpft. Die gesamte Stadt liege unter Artilleriefeuer der russischen Streitkräfte, das Soldaten beider Seiten gefährde. “Der gestrige Tag war für uns erfolgreich. Wir sind zum Gegenangriff übergegangen, und in einigen Gebieten konnten wir sie um einen oder zwei Blocks zurückdrängen. In anderen haben wir sie buchstäblich um ein oder zwei Häuser zurückgedrängt”, sagte Kusyk im Fernsehen.
Eine Evakuierung von Sjewjerodonezk ist nach Angaben von Bürgermeister Olexander Strjuk nicht mehr möglich. Etwa 10.000 Zivilisten seien noch in der Stadt, sagte er. Ukrainische Soldaten waren zuletzt an den Rand der Stadt zurückgedrängt worden, die durch russische Bombenangriffe bereits weitgehend zerstört ist. Die Ukraine kontrolliert nach eigenen Angaben weiterhin die durch einen Fluss getrennte Zwillingsstadt Lyssytschansk. Diese ist aber ebenfalls schweren Bombardements ausgesetzt. Die beiden Städte befinden sich in der Region Luhansk, die zusammen mit der Region Donezk den Donbass bildet. Vor der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar kontrollierten pro-russische Separatisten bereits rund ein Drittel des Donbass.
Auf dieses überwiegend russisch-sprachige Gebiet hat das russische Militär zuletzt den Fokus seines Angriffs verlagert, nachdem es in anderen Landesteilen einige empfindliche Rückschläge einstecken hatte müssen – etwa als es im März vor den Toren der Hauptstadt Kiew zurückgeschlagen wurde. Die Regierung in Moskau spricht von einer “Spezialoperation” im Nachbarland. Die Ukraine und westliche Staaten werfen Moskau einen Angriffskrieg vor, der mittlerweile Zehntausende Menschen das Leben gekostet hat. Laut den Vereinten Nationen sind seit dem 24. Februar sieben Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen.
“MILLIONEN MENSCHEN KÖNNTEN HUNGER LEIDEN”
In der südlichen Region Cherson gab es laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium eine Gegenoffensive. Dabei sei einiges an Territorium zurückerobert worden, teilte das Ministerium in Kiew mit. Russland habe Soldaten und Material verloren. Bei ihrem Rückzug würden die russischen Truppen Gelände verminen und Barrikaden errichten. Einzelheiten wurden nicht genannt. Berichte aus dem Kampfgebiet können unabhängig nicht überprüft werden.
Drei Ausländer, die aufseiten der Ukraine gekämpft haben und gefangen genommen wurden, wurden der russischen Nachrichtenagentur RIA zufolge von einem Gericht in der pro-russischen Separatisten-Region Donezk zum Tode verurteilt. Dabei handelt es sich um zwei Briten und ein Marokkaner. Die drei Männer kündigten Berufung gegen das Urteil des obersten Gerichts in der selbst ernannten Volksrepublik Donezk an, wie die russische Agentur Tass meldete. Das britische Außenministerium hatte zuvor erklärt, die Gefangenen würden für politische Ziele missbraucht.
Selenskyj prangerte zudem die russische Blockade ukrainischer Schwarzmeer-Häfen an. Die Welt stehe am Rande einer “fürchterlichen Nahrungskrise”, weil die Ukraine große Mengen an Getreide, Ölen und anderen Agrarprodukten nicht exportieren könne. “Millionen Menschen könnten Hunger leiden, wenn die russische Blockade im Schwarzen Meer anhält.” Russische Kriegsschiffe kontrollieren das Schwarze Meer und das Asowsche Meer, über die die Ukraine vor dem Krieg große Mengen an Lebensmitteln verschifft hat. Russland weist Vorwürfe zurück, damit für steigende Preise und drohende Lieferengpässe verantwortlich zu sein, und verweist stattdessen unter anderem auf die Behinderung des Handels durch ukrainische Seeminen.