Russischer Angriffskrieg treibt Ukraine in die Arme der EU

– von Robin Emmott und Max Hunder

Brüssel/Kiew (Reuters) – Der russische Angriffskrieg öffnet der Ukraine die erste Tür auf dem Weg nach Europa.

Die EU-Kommission in Brüssel schlug am Freitag vor, dem Land den Status eines Beitrittskandidaten zur Europäischen Union zu verleihen. “Die Ukraine hat deutlich ihren Wunsch und ihre Entschlossenheit gezeigt, europäische Werte und Standards zu erfüllen”, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf einer Pressekonferenz in Brüssel, gekleidet in den ukrainischen Nationalfarben mit gelbem Blazer und blauem Hemd. Entscheiden müssen dies aber die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsländer auf ihrem Gipfeltreffen Ende nächster Woche. Der Beschluss kann nur einstimmig fallen, und Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft dürften Jahre dauern.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schrieb in einer ersten Reaktion auf Twitter von einer “historischen Entscheidung”. Der Schritt bringe sein Land näher an einen Gewinn des Krieges. Er gehe davon aus, dass die EU-Staats- und Regierungschefs dem Vorschlag zustimmen werden. Die Ukraine hatte vier Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar offiziell die Mitgliedschaft in der EU beantragt. Vier weitere Tage später taten dies auch Moldawien und Georgien. Das ukrainische Nachbarland Moldawien soll nach dem Willen der EU-Kommission ebenfalls den Kandidatenstatus erhalten. Zur Bewerbung Georgiens sagte von der Leyen, diese sei zwar stark. Es fehlten aber weitere politische Reformen in dem Land.

Am Donnerstag hatten sich Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Regierungschef Mario Draghi und der rumänische Präsident Klaus Iohannis bei einem Besuch in Kiew dafür ausgesprochen, der Ukraine und Moldawien den Kandidatenstatus zu verleihen. “Die Ukraine gehört zur europäischen Familie”, sagte Scholz. In Deutschland befürwortet eine deutliche Mehrheit den EU-Kandidatenstatus für die Ukraine. Laut ZDF-Politbarometer sind 60 Prozent dafür und 31 Prozent dagegen.

“ERHÖHTE AUFMERKSAMKEIT”

Russland erklärte in einer ersten Reaktion, die Bemühungen der Ukraine um einen Beitritt zur EU werde genau beobachtet. Das Thema “bedarf unserer erhöhten Aufmerksamkeit, weil wir uns alle der Intensivierung der Diskussionen in Europa über die Stärkung der Verteidigungskomponente in der EU bewusst sind”, sagte der Sprecher des Präsidialamts in Moskau, Dmitri Peskow.

Die moldawische Präsidentin Maia Sandu nannte die Brüsseler Entscheidung ein “starkes Signal der Unterstützung Moldawiens und seiner Bewohner”. Ihr Land sei entschlossen, nun weiter hart zu arbeiten, um die Kritierien für einen Beitritt zu erfüllen. Teile Moldawiens werden von pro-russischen Separatisten kontrolliert. In der früheren Sowjetrepublik gibt es beträchtliche Ängste, dass dem Land das gleiche Schicksal wie der Ukraine drohen könnte.

Frankreichs Präsident Macron will trotz Kritik an seinem Vorgehen den Gesprächskanal mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin offenhalten. Immer wenn es hilfreich sei, werde er mit Putin sprechen, sagte Macron in einem Interview des TV-Senders BFM. Frankreich werde alles tun, was es könne, damit die Ukraine den Krieg gewinne. Macron zeigte sich auch bereit, mit Putin über eine Ausfuhr von Getreide aus dem ukrainischen Schwarzmeer-Hafen Odessa zu reden. Er sehe aber wenig Chancen für eine Vereinbarung.

TOTE BEI RAKETENANGRIFF IN MYKOLAJIW

Russland bekräftigte unterdessen seine Darstellung, das Hauptziel seiner “militärischen Spezialoperation” in der Ukraine bleibe der “Schutz” der Bevölkerung im Donbass im Osten. Die Region müsse vor “barbarischen Angriffen” der ukrainischen Streitkräfte gerettet und geschützt werden, sagte Präsidialamtssprecher Peskow. In dem Krieg sind bereits tausende Menschen getötet und unzählige Städte und Dörfer zerstört worden.

Umkämpft bleibt nach wie vor die Stadt Sjewjerodonezk. Eine Evakuierung der 568 Zivilisten aus dem Azot-Chemiewerk dort ist nach ukrainischen Angaben wegen anhaltendem Beschuss durch die russischen Truppen derzeit unmöglich. Es gebe schwere Kämpfe, teilte der Gouverneur der ostukrainischen Region Luhansk, Serhij Hajdaj, auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit. Unter den Schutzsuchenden in den Bunkern der Anlage seien auch 38 Kinder.

Bei einem russischen Raketenangriff auf die südukrainische Stadt Mykolajiw wurden am Morgen nach ukrainischen Angaben zwei Menschen getötet. Zwanzig Menschen seien verletzt worden, darunter ein Kind, teilte der Gouverneur der gleichnamigen Region, Witali Kim, weiter auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit. Vier Wohngebäude und eine Infrastruktureinrichtung seien beschädigt worden.

(Reuters-Büros; Bearbeitet von Alexander Ratz, redigiert von Jörn Poltz.; Bei Rückfragen wenden Sie sich an berlin.newsroom@tr.com)

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