Vor EU-Entscheidung – Selenskyj rechnet mit schweren Angriffen

(neue Einzelheiten)

– von Natalia Zinets und Max Hunder

Kiew/Luxemburg (Reuters) – Russland wird nach Einschätzung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj seine Angriffe in den kommenden Tagen angesichts der Beratungen über das Beitrittsgesuch seines Landes zur Europäischen Union verstärken.

“Diese Woche sollten wir von Russland eine Intensivierung seiner feindlichen Aktivitäten erwarten”, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache in der Nacht zum Montag. “Wir sind bereit.” Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs werden bei ihrem Gipfel am Donnerstag und Freitag voraussichtlich entscheiden, dass die Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten erhält. Russische Truppen nahmen unterdessen weitere Gebiete im Osten der Ukraine ein.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sprach mit Blick auf den EU-Beitrittsprozess der Ukraine von einem “historischen Moment”. Niemand im Kreise der EU-Staaten wolle, “dass wir in ein paar Jahren zurückschauen und sagen, wie konnten wir diese Weichenstellung nicht nutzen”, sagte Baerbock vor Beginn von Beratungen der EU-Außenminister in Luxemburg. “Ich bin überzeugt davon, dass wir jetzt die Verantwortung haben, der Ukraine nicht nur deutlich zu machen, ihr gehört zu Europa …, sondern sie in unseren europäischen Kreis aufnehmen”. Das sei “logischerweise ein schwieriger Prozess, aber es gilt jetzt nicht, nach Schema F zu verfahren, sondern diesen historischen Moment zu nutzen”. Dies gelte im übrigen auch für die Republik Moldau.

Die Ernennung der Ukraine zum EU-Beitrittskandidaten ginge klar gegen das erklärte Ziel des russischen Präsidenten Wladimir Putin, eine Westbindung des Landes zu verhindern. Die EU-Kommission hatte am Freitag vorgeschlagen, der Ukraine den Status des Beitrittskandidaten zu verleihen. Präsidentin Ursula von der Leyen betonte am Sonntagabend in der ARD-Sendung “Anne Will”: “Die Ukraine hat enorme Schritte nach vorn gemacht.” Das Land sei eine robuste, parlamentarische Demokratie. Zugleich gebe es angesichts des russischen Angriffskriegs aber auch eine “moralische Verpflichtung”, das Land zu unterstützen. Klar sei aber auch: “Wir wollen noch mehr Reformen sehen”, sagte von der Leyen. Dies gelte etwa für mehr Rechtsstaatlichkeit, den Kampf gegen die Korruption und gegen den Einfluss von Oligarchen.

Erwartet wird, dass die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Ukraine Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte in Anspruch nehmen werden. Bei ihrem Besuch in Kiew am vergangenen Donnerstag hatten sich die Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Italien und Rumänien dafür ausgesprochen, der Ukraine den Status des Beitrittskandidaten zu verleihen. Die Ukraine gehöre zur europäischen Familie, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. Von der Leyen mahnte wie auch Baerbock parallel dazu Reformen der EU an, etwa hin zu mehr Entscheidungen mit Mehrheit anstatt mit Einstimmigkeit.

Die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine werden auch im Vordergrund des G7-Gipfels im bayerischen Elmau stehen, der am kommenden Sonntag beginnt. Bei dem dreitägigen Treffen wollen die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden westlichen Industrieländer darüber reden, wie die Ukraine mittel- und langfristig unterstützt werden könne, sagten Regierungsvertreter in Berlin. Es werde um größere Summen gehen als die fünf Milliarden Euro, die die Ukraine derzeit monatlich für das Funktionieren der Regierung brauche. Die G7-Partner wollten sich auch zu den Energiesanktionen gegen Russland abstimmen. Der G7 gehören Deutschland, die USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan an. Auch US-Präsident Joe Biden wird in Elmau erwartet.

Beendet wird die Gipfelwoche am Donnerstag nächster Woche in Madrid. Am 29. und 30. Juni treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 30 Nato-Mitglieder in der spanischen Hauptstadt. Dabei geht es vor allem um die Anträge Finnlands und Schwedens auf Beitritt zur transatlantischen Allianz. Regierungskreise in Berlin äußerten sich am Montag zuversichtlich, dass die Nato-Staaten dies einstimmig billigen würden. Sollten aber weitere Wochen dafür benötigt werden, wäre dies “keine Katastrophe”, hieß es weiter. Die Türkei blockiert bislang den erforderlichen einstimmigen Beschluss für die Aufnahme der beiden Nordländer.

“EIN GEWISSER ERFOLG”

Das Kriegsgeschehen fokussierte sich unterdessen weiter im Gebiet der Stadt Sjewjerodonezk in der Ost-Ukraine. Die pro-russischen Separatisten nahmen am Montag nach eigenen Angaben die Ortschaft Toschkiwka rund 25 Kilometer südlich der Industriestadt ein. Von ukrainischer Seite wurde den Russen in dem Gebiet “ein gewisser Erfolg” zugesprochen. Der Regionalgouverneur von Lukansk, Serhij Hajdaj, sagte, die russischen Streitkräfte versuchten einen Durchbruch in dem Gebiet und hätten massiv militärisches Gerät dorthin gebracht, einschließlich Panzer. Unabhängig konnten die Angaben nicht überprüft werden.

In Sjewjerodonezk, wo vor dem Krieg rund 100.000 Menschen lebten, kontrollieren russische Truppen laut Bürgermeister Olekander Struk zwei Drittel der Stadt. “Ich hoffe, die Stadt wird gehalten”, sagte Struk. Das britische Verteidigungsministerium hatte am Sonntag erklärt, im Frontverlauf gebe es “wenig Veränderungen”.

Auch die südukrainische Stadt Odessa wurde nach Angaben eines Sprechers der Regionalverwaltung wieder von mehreren Explosionen erschüttert. Die Detonationen seien nach dem Ertönen von Alarmsirenen zu hören gewesen. Angaben über Opfer gab es zunächst nicht. Die Ukraine hatte zuvor nach russischen Angaben Ölplattformen vor der Küste der Krim unter Beschuss genommen.

(Weitere Reuters-Büros, Sabine Siebold, Andreas Rinke; Bearbeitet von Alexander Ratz; Redigiert von Hans Seidenstücker; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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