Nord Stream 1-Wartung beginnt – Angst vor Gasstopp

– von Vera Eckert und Tom Käckenhoff und Nina Chestney

Berlin (Reuters) – Der Beginn der Wartungsarbeiten an der Nord Stream 1-Pipeline erhöht die Nervosität über die weitere Gasversorgung in Deutschland.

Wie geplant begann am Montag die jährliche Wartung der Pipeline durch die Ostsee, bei der der Gasfluss üblicherweise für zehn Tage unterbrochen wird. Regierungen, Märkte und Unternehmen sind aber besorgt, dass Russland die Abschaltung aus politischen Gründen wegen des Krieges in der Ukraine über den 21. Juli hinaus verlängern könnte. Was nach diesem Datum passiere, könne derzeit niemand wissen, sagte der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, im Reuters-TV-Interview. “In zehn Tagen ungefähr wissen wir, ob Gas weiterhin fließen wird.”

Die Nord Stream 1-Pipeline transportiert jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas von Russland nach Deutschland durch die Ostsee. Zum Beginn der Wartungsarbeiten fielen die Buchungen für den Gas-Fluss am Montagfrüh wie erwartet auf Null, der Gasfluss würde gedrosselt, teilte der Betreiber mit. Russisches Gas wird aber auch durch die Ukraine nach Westen geleitet. Der russische Energiekonzern Gazprom teilte mit, dass über den Grenzpunkt Sudzha am Montag 39,4 Millionen Kubikmeter Gas nach Westen gepumpt werden, nach 41,9 Millionen am Sonntag. Durch die durch Polen laufende Jamal-Pipeline leitet Gazprom schon länger kein russisches Gas mehr. Deutschland bekomme aber auch jetzt weiterhin Gas, betonte Bundesnetzagentur-Chef Müller.

STREIT UM TECHNISCHE ODER POLITISCHE GRÜNDE

Gazprom hatte seine Lieferungen durch die Nord Stream 1-Pipeline bereits seit geraumer Zeit auf 40 Prozent des Volumens reduziert. Deutschland und andere EU-Staaten kaufen deshalb auch auf den Weltmärkten Gas ein, um die Speicher für Herbst und Winter zu füllen. Die Bundesregierung hat ein Bündel an Notmaßnahmen beschlossen, mit denen auf eine mögliche Gasknappheit in den kommenden Monaten reagiert werden soll. Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte am Sonntag gesagt, dass die 15 Milliarden Euro, die Gasversorger zum Einkauf von Flüssiggas aus anderen Staaten zur Verfügung gestellt wurde, auf Grund der steigenden Gaspreise möglicherweise nicht ausreichen werden. Parallel müssen Gasversorger wie Uniper staatlich gestützt werden, weil sie die hohen Preise für den Gaseinkauf derzeit kaum an die Kunden weitergeben können. Die Bundesnetzagentur arbeitet zudem an Notfallplänen, nach welcher Priorität Gas verteilt werden soll, wenn es knapp werden sollte.

Habeck sucht bei der Gasversorgung auch den Schulterschluss mit Tschechien und Österreich. “Natürlich wachsen unsere Sorgen darüber, dass Russland Gaslieferungen ganz offensichtlich als politische Waffe einsetzt, um die Preise in die Höhe zu treiben, Märkte zu verunsichern und Chaos zu verbreiten”, sagte er anlässlich seiner Gespräche mit den Regierungen am Montag in Prag und am Dienstag in Wien. Es müsse eine stärkere europäische Zusammenarbeit bei der Sicherung der Gasversorgung geben. Deutschland sei sich bewusst, dass Gas im Notfall zwischen europäischen Länder geteilt werden müsse. Ob nach der Wartung durch Nord Stream 1 wieder Gas strömen werde, sei völlig unklar. “Alles ist möglich.” Russisches Gas könne dann wieder im vollen Umfang durch die Pipeline fließen, die Menge könne aber auch bei null bleiben. Deutschland bereite sich auf das Schlimmste vor.

DGB WARNT VOR VERLUST VON MILLIONEN ARBEITSPLÄTZEN

Auch andernorts gab es Bemühungen um internationale Bündnisse. So steht Brasilien nach den Worten seines Präsidenten Jair Bolsonaro kurz vor einem neuen Gas-Abkommen mit Russland. Ziel sei, günstigeres Gas aus Russland zu importieren, sagte Bolsonaro, der auch für ein gutes Verhältnis zum russischen Präsidenten Wladimir Putin pflegt. Details nannte er nicht.

Der DGB warnt vor dem Verlust von Millionen Arbeitsplätzen in Folge eines Gasmangels. “Bei einem fortgesetzten Gaslieferstopp seitens Russlands können Unternehmen, die in den ersten zwei Quartalen noch Rekordgewinne eingefahren haben, rasch in existenzielle Not geraten und damit Millionen von Arbeitsplätzen bedroht sein”, sagte die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Yasmin Fahimi, dem “Handelsblatt”. Man könne sich aber nicht erlauben, dass ganze Industrieregionen oder bestimmte Branchen in die Knie gingen. Wenn diese Industriearbeitsplätze einmal weg seien, würden sie nie wieder kommen. “Dann gehen wir an die Wurzeln unserer Volkswirtschaft.”

Ökonomen erwarten durch hohe Gaspreise und mögliche Lieferengpässe enorme Belastungen für die Volkswirtschaft. Bliebe das Gas aus, würde zwar nicht sofort der Gas-Notstand herrschen, doch eine weitere Befüllung der Gasspeicher für den Winter wäre schwierig und spätestens 2023 müsste das Gas dann rationiert werden, erläuterte VP-Bank-Chefvolkswirt Thomas Gitzel. “Die deutsche und die europäische Wirtschaft würden in eine tiefe Rezession abrutschen.”

(Mit Reuters TV, geschrieben von Andreas Rinke und Tom Käckenhoff, redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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