Istanbul (Reuters) – Die Verbraucherpreise in der Türkei sind im August so stark gestiegen wie seit 1998 nicht mehr.
Waren und Dienstleistungen verteuerten sich um durchschnittlich 80,21 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, wie das Statistikamt am Montag mitteilte. Von der Nachrichtenagentur Reuters befragte Ökonomen hatten sogar mit einer Inflationsrate von 81,2 Prozent gerechnet, nachdem sie im August noch 79,6 Prozent betragen hatte. Allein von Juli auf August erhöhten sich die Lebenshaltungskosten um 1,46 Prozent. Der Inflationsgipfel dürfte nach Prognose der Zentralbank erst im Herbst erreicht werden, und zwar mit Teuerungsraten von nahezu 90 Prozent.
Umfragen zufolge glauben viele Türkinnen und Türken der amtlichen Statistik nicht: Etwa jeder Zweite ist der Meinung, dass die Preise noch stärker steigen als offiziell ausgewiesen. Auch Oppositionspolitiker und manche Ökonomen trauen den offiziellen Daten nicht. “Ich glaube ihnen nicht mehr”, sagte Anlagestrategie Tim Ash vom Vermögensverwalter BlueBay Asset Management. “Es sieht aus wie Fantasie, Wunschdenken. Wie kann man Wirtschaftspolitik betreiben, wenn man den wirtschaftlichen Grunddaten nicht trauen kann?”
Die Transportkosten – zu denen etwa Benzin gerechnet wird – erhöhten sich im vergangenen Monat um 117 Prozent. Lebensmittel und alkoholfreie Getränke verteuerten sich um mehr als 90 Prozent. Auch für Möbel und Haushaltsgeräte mussten die Verbraucher tiefer in die Taschen greifen: Sie kosteten durchschnittlich 92 Prozent mehr als im August 2021. Die inländischen Erzeugerpreise schnellten sogar um 143,75 Prozent nach oben.
LIRA UNTER VERKAUFSDRUCK
Grund für die Entwicklung sind vor allem die Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine, durch den viele Rohstoffe deutlich teurer geworden sind. Die steigende Inflation ist aber auch eng verbunden mit der schwächelnden Lira: Die Landeswährung hat im vergangenen Jahr 44 Prozent an Wert zum Dollar verloren, in diesem Jahr bislang weitere 27 Prozent. Grund dafür ist, dass die Zentralbank ihren Leitzins seit vergangenem Herbst schrittweise von 19 auf aktuell 14 Prozent gesenkt hat, obwohl die ökonomischen Lehrbücher bei stark steigenden Preisen eigentlich Zinserhöhungen empfehlen. Sinkende Zinsen machen eine Währung für Anleger unattraktiver. Die schwache Lira wiederum verteuert Importe, auf die die rohstoffarme Türkei angewiesen ist.
Der Anstieg der Inflation löste erneut Verkäufe der Landeswährung aus. Im Gegenzug steigt der Dollar um 0,3 Prozent und liegt mit 18,233 Lira nur knapp unter seinem jüngsten Rekordhoch. Wegen des Drucks von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf die Zentralbank seien in den kommenden Monaten weitere Zinssenkungen zu erwarten, sagte Volkswirt Liam Peach vom Research-Haus Capital Economics. Daher habe die Lira ihre Talsohle wohl noch nicht erreicht.
Erdogan will mit niedrigen Zinsen die Konjunktur anschieben. Die Inflationsrate soll nach einer Vorhersage der Regierung bis Jahresende auf 65 Prozent zurückgehen. Bis Ende 2023 dürfte sie dann auf knapp 25 Prozent fallen, hieß es in einer am Sonntag veröffentlichen Prognose.
(Bericht von Canan Sevgili und Azra Ceylan, geschrieben von Rene Wagner, redigiert von Sabine Ehrhardt – Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)