Ukrainische Truppen rücken bei Cherson vor – “Stadt des Todes”

(durchgehend neu)

– von Jonathan Landay

An der Frontlinie in Cherson (Reuters) – Nach dem angekündigten Rückzug der russischen Truppen aus Cherson sind die ukrainischen Streitkräfte in dem Gebiet im Süden des Landes am Donnerstag vorgerückt.

Die Regierung in Kiew blieb zugleich verhalten bezüglich der Ankündigung aus Moskau. Ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte, Cherson könne zu einer “Stadt des Todes” werden. Der ukrainische Armeechef Walerij Saluschnyj sagte, er könne einen Abzug der Russen aus Cherson nicht bestätigen. Er teilte aber mit, dass die ukrainischen Truppen unter anderem die Stadt Snihuriwka in der südlichen Region Mykolajiw zurückerobert hätten.

Insgesamt seien die ukrainischen Streitkräfte binnen 24 Stunden um sieben Kilometer vorgerückt und hätten zwölf Ortschaften von russischer Besatzung befreit, schrieb Saluschnyj auf Telegram. “Wir setzen unsere offensive Operation in Einklang mit unserem Plan um.” Ein ukrainischer Soldat sagte in einem Video: “Heute, am 10. November, wurde Snihuriwka von den Kräften des 131. separaten Aufklärungsbataillons befreit.” Auf den Bildern ist zu sehen, dass der Soldat inmitten einer schwerbewaffneten Gruppe steht, eine ukrainische Flagge auf einem Infanteriefahrzeug hochgehalten wird und Umstehende jubeln. Snihuriwka liegt rund 55 Kilometer nördlich von Cherson.

Petro Lupan, ein ukrainischer Freiwilliger, der im Gebiet nördlich von Cherson Brot unter Anwohnern verteilte, sagte, er habe gerade von einem Freund am Telefon erfahren, dass Snihuriwka zurückerobert worden sei. “Ich finde keine Worte, um meine Gefühle zu beschreiben”, sagte der 46-Jährige sichtlich beglückt.

“SO SIEHT DIE RUSSISCHE WELT AUS”

Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte den Rückzug am Mittwochabend in Moskau angekündigt und damit die bislang wohl schwerste Niederlage in dem nunmehr knapp neunmonatigen Feldzug eingeräumt. Der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte in der Ukraine, General Sergej Surowikin, begründete den Schritt damit, dass Cherson nicht mehr mit Nachschub zu versorgen sei. “Wir werden die Leben unserer Soldaten und die Kampfkraft unserer Einheiten sichern”, sagte Surowikin in einer im Fernsehen übertragenen Rede. Beabsichtigt sei nun, dass die Streitkräfte sich auf das Halten des Ostufers des Dnipros konzentrieren sollten.

Die Regierung in Kiew blieb allerdings auch am Donnerstag misstrauisch. Mychail Podoljak, ein Berater von Präsident Selenskyj, äußerte die Erwartung, dass die russischen Truppen vor ihrem Abzug ganz Cherson verminten und anschließend vom Ostufer aus unter Beschuss nähmen. Cherson werde damit zu einer “Stadt des Todes”, schrieb er auf Twitter. “So sieht die russische Welt aus: kommen, ausrauben, feiern, ‘Zeugen’ töten, Ruinen hinterlassen und abhauen.” Selenskyj selbst sagte in seiner nächtlichen Video-Botschaft, die ukrainischen Truppen stärkten ihre Position im Süden “Schritt für Schritt”. Zugleich warnte er: “Der Feind wird uns keine Geschenke machen.”

“VIEL MENSCHLICHES LEID”

Cherson ist eine von vier Regionen in der Ukraine, die mittlerweile von der Regierung in Moskau annektiert und zum russischen Staatsgebiet erklärt wurde. Die Region ist für Russland auch deshalb wichtig, weil es an die ukrainische Halbinsel Krim grenzt, die die Regierung in Moskau bereits 2014 völkerrechtswidrig annektierte. Sollten sich die russischen Streitkräfte komplett aus dem Gebiet zurückziehen müssen, wäre eine direkte Verbindung von der Krim zum ukrainischen Festland gekappt, was Folgen für die russischen Nachschubwege hätte. Zudem würden die ukrainischen Stellungen wieder sehr viel näher an die Krim rücken, die seit Beginn des Krieges bereits mehrfach Ziel von Angriffen war. Schließlich gilt Cherson als strategisch wichtig für die russische Strategie, die gesamte Schwarzmeer-Küste der Ukraine zu besetzen.

US-Generalstabschef Mark Milley sagte, erste Erkenntnisse deuteten darauf hin, dass Russland seine Truppen aus Cherson westlich des Flusses Dnipro tatsächlich abzögen. Dies werde aber einige Zeit dauern. Nach seinen Worten haben sowohl Russland als auch die Ukraine bislang mindestens 100.000 getötete und verwundete Soldaten zu verzeichnen. “Es gibt viel menschliches Leid.” Zudem seien seit Beginn der russischen Invasion im Februar bis zu 40.000 ukrainische Zivilisten in dem Konflikt ums Leben gekommen.

(Bearbeitet von Alexander Ratz; Redigiert von Hans Seidenstücker; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

tagreuters.com2022binary_LYNXMPEIA90NX-VIEWIMAGE