– von Umit Bektas und Mehmet Caliskan und Khalil Ashawi
Antakya (Reuters) – Nach dem schweren Erdbeben an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei wächst die Verzweiflung im Katastrophengebiet.
Die Kälte und auch Hunger setzen Hunderttausenden Obdachlosen immer mehr zu, auch die Hoffnungen für die Verschütteten schwinden zusehends. Zwar gibt es noch vereinzelt Berichte über die Rettung von Menschen. So verbreitete eine türkische Hilfsorganisation ein Video, auf dem zu sehen war, wie rumänische und polnische Helfer in der Stadt Hatay einen Zweijährigen 79 Stunden nach dem Beben lebend aus den Trümmern ziehen. Doch für viele Menschen auch in Syrien dürfte bald jede Hilfe zu spät kommen. Die Zahl der bestätigten Todesopfer in beiden Ländern stieg zuletzt auf mehr als 19.000.
In der syrischen Provinz Idlib berichtete eine Mutter von vier Kindern über die Zustände. “Letzte Nacht konnten wir nicht schlafen, weil es so kalt war”, sagt Munira Mohammad, die nach dem Beben aus Aleppo geflohen war. “Es ist sehr schlimm.” In beiden Ländern campierten Menschen in provisorischen Unterkünften auf Supermarktparkplätzen, in Moscheen oder in den Ruinen der Städte. Sie versammelten sich um Lagerfeuer am Straßenrand oder auf dem begrünten Mittelstreifen von Hauptstraßen, in beschädigten Garagen und Lagerhallen.
Den Menschen, die mitten im Winter ihre Bleibe verloren haben, setzt nicht nur die Kälte zu. Auch Lebensmittel und Wasser sind knapp. Vor den wenigen Tankstellen, die in Stadt Antakya noch Treibstoff haben, bildeten sich kilometerlange Schlangen.
In der Türkei sind nach Angaben von Präsident Recep Tayyip Erdogan 16.170 Menschen ums Leben gekommen. Aus Syrien meldeten die Behörden und eine von der Opposition in den Rebellengebieten im Nordwesten des Landes betriebene Zivilschutzorganisation über 3000 Tote. Mit insgesamt über 19.000 Todesopfern werden die mehr als 17.000 Toten, die es bei dem ähnlich schweren Erdbeben 1999 in der Türkei gegeben hat, noch übertroffen.
Einige wenige Überlebende konnten noch gerettet werden, wie auf verschiedenen Videoaufnahmen aus der Türkei zu sehen war. So auch ein Mann, der seit Montag unter den Trümmern seines Hauses neben seiner verstorbenen Frau ausgeharrt hatte.
Doch für viele andere gibt es kaum noch Hoffnung. Zur Verzweiflung der Angehörigen ist es mitunter auch nicht möglich, Verschüttete zu bergen, obwohl ihre Hilferufe zu hören sind. In der Türkei kritisieren bereits viele den Mangel an Ausrüstung, Fachwissen und Unterstützung. Der wachsende Unmut über das Katastrophenmanagement könnte in der Türkei auch Auswirkungen auf die für den 14. Mai geplanten Präsidenten- und Parlamentswahlen haben.
DIREKTE KRITIK AN PRÄSIDENT ERDOGAN
“Wo ist der Staat? Wo waren sie in den vergangenen zwei Tagen”, klagte ein Frau, die in der Stadt Malatya nahe den schneebedeckten Trümmern eines Gebäudes ausharrte, unter denen ihre Familienmitglieder eingeschlossen sind. Die Kritik vieler Türken richtete sich auch direkt an Präsident Erdogan. Bei einem Besuch im Katastrophengebiet betonte Erdogan am Mittwoch, dass die Bergungsarbeiten inzwischen liefen und niemand obdachlos bleiben werde.
Wenn die Öffentlichkeit der Regierung Versagen beim Krisenmanagement vorwirft, könnte dies Erdogans Chancen bei der Präsidentenwahl schmälern. Umgekehrt verweisen Beobachter darauf, dass Erdogan die Türken aber auch in der Krise hinter sich vereinen könnte. Ein Regierungsvertreter sagte jedoch, dass es noch zu früh sei, überhaupt über die Wahl zu sprechen. Schließlich lebten 15 Prozent der Türken in den vom Beben betroffnen Gebieten. “Im Moment gibt es sehr ernste Schwierigkeiten, wie geplant am 14. Mai eine Wahl abzuhalten.”
ÜBER 23 MILLIONEN IN SYRIEN UND DER TÜRKEI BETROFFEN
Das Beben hat nach Schätzungen der türkischen Regierung rund 13 Millionen Menschen getroffen – in einem Gebiet, das von Adana im Westen bis Diyarbakir im Osten reicht. In Syrien sind laut den Vereinten Nationen (UN) fast 10,9 Millionen Menschen unter anderem in Hama, Latakia, Idlib und Aleppo vom Beben betroffen – eine Region, die bereits besonders unter den nunmehr fast zwölf Jahren Bürgerkrieg gelitten hat.
Über den Grenzübergang Bab al Hawa erreichte inzwischen ein UN-Hilfskonvoi Syrien. Es handelte sich um den ersten eines solchen Transports seit dem Beben. Durch die Schäden infolge der Erdstöße blieb auch die reguläre UN-Hilfe aus, von der im Nordwesten Syriens vier Millionen Menschen abhängig sind.
Der UN-Sondergesandte Geir Pedersen forderte zu umfassenden Hilfslieferungen auf. Die vom Beben betroffenen Menschen benötigten so gut wie alles, betonte Pedersen in Genf. Er mahnte, dass keine politischen Hindernisse der Hilfslieferung im Weg stehen dürften.
Der syrische Präsident Baschar Al-Assad hat Krisensitzungen einberufen, sich aber zu dem Beben noch nicht in einer Ansprache oder bei einer Pressekonferenz geäußert.
(Mitarbeit von weiteren Reuters-Reportern und Reporterinnen in der Türkei, in Syrien und Jordanien, im Libanon und der Schweiz; Geschrieben von Elke Ahlswede, redigiert von Birgit Mittwollen. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)