– von Alexander Ratz und Jörn Poltz und Andreas Rinke
Berlin/München (Reuters) – Nach dem tödlichen Messerangriff in Aschaffenburg gewinnt die Diskussion über ein schärferes Vorgehen in der Migrationspolitik vier Wochen vor der Bundestagswahl an Fahrt.
Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sagte am Donnerstag in Berlin, er würde im Fall einer Kanzlerschaft irreguläre Migranten an allen deutschen Grenzen zurückweisen: “Ich werde im Fall meiner Wahl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland am ersten Tag meiner Amtszeit das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers anweisen, die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen.” Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sieht eine “Zeitenwende” in der deutschen Zuwanderungs- und Asylpolitik. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) wies Forderungen nach einem schärferen Vorgehen zurück. Faeser und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) warfen ihren jeweiligen Behörden gegenseitig Versäumnisse vor.
Bei dem Messerangriff am Mittwoch waren ein Kleinkind und ein Mann getötet worden. Der tatverdächtige Afghane sollte nach Polizeiangaben am Donnerstag einem Haftrichter vorgeführt werden. Bei dem getöteten Kind handelt es sich um einen zweijährigen Jungen marokkanischer Abstammung, der mit einer Kindergartengruppe unterwegs war. Die zweite getötete Person ist ein 41-jähriger Deutscher, der zufällig am Tatort war und die Kinder beschützen wollte. Weitere Personen seien teils schwer verletzt worden. Der 28 Jahre alte Tatverdächtige habe ein Asylverfahren durchlaufen und sei ausreisepflichtig gewesen.
Den Behörden zufolge war er zudem bereits vorher auffällig und litt an einer psychischen Erkrankung. “Die bayerischen Behörden müssen erklären, warum der Täter trotz mehrfacher Gewaltdelikte noch auf freiem Fuß war”, sagte Faeser. “Offenbar sind in Bayern dort auch einige Dinge schiefgelaufen”, fügte sie hinzu. “Deshalb finde ich jetzt auch die Reaktion der Bayern befremdlich.” Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann warf dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vor, für den Aufenthalt des Tatverdächtigen in Deutschland und auch für dessen Abschiebung verantwortlich zu sein. “Die Verantwortung, dass auch nach zwei Jahren keine abschließende Entscheidung des BAMF ergangen ist, liegt allein beim BAMF.” Das BAMF ist dem Bundesinnenministerium untergeordnet.
Faeser sagte, es gehe jetzt darum, die bestehenden Gesetze konsequent umzusetzen. “Es geht ums Handeln, ums Durchsetzen des Rechts.” Dies sei sinnvoller, als jetzt neue populistische Vorschläge zu machen, fügte die Ministerin auch mit Blick auf Merz hinzu. Faeser verwies darauf, dass es im vergangenen Jahr 111.000 Asylgesuche in Deutschland weniger gegeben habe als 2023, das sei ein Rückgang um 34 Prozent. Zugleich seien die Abschiebungen aus Deutschland um 22 Prozent gestiegen, und es habe an den deutschen Grenzen mehr als 40.000 Zurückweisungen gegeben. Den Bundestag forderte die Ministerin auf, bestehende Vorlagen der Regierung zur Reform des europäischen Asylsystems schnellstmöglich zu beschließen.
“AUSDRÜCKLICH AUCH FÜR PERSONEN MIT SCHUTZANSPRUCH”
CDU-Chef Merz will die Zügel im Asyl- und Migrationsrecht dagegen weiter anziehen. Als Bundeskanzler würde er am ersten Tag seiner Amtszeit das Bundesinnenministerium anweisen, “die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen”, sagte er in Berlin. Weil die europäischen Regeln nicht funktionierten, würde er im Falle eines Wahlsiegs Vorrang des nationalen Rechts anordnen. Zurückweisungen würden “ausdrücklich auch für Personen mit Schutzanspruch” gelten. Faeser äußerte europarechtliche Zweifel an einem solchen Vorgehen.
Söder begrüßte die Ankündigungen des Unions-Kanzlerkandidaten. “Faktisch bedeutet das, für die illegale Migration und überhaupt für diese Bereiche, einen Aufnahmestopp. Faktisch bedeutet das eine Grenzschließung für illegale Migration”, sagte der CSU-Vorsitzende in München. Subsidiärer Schutz und Familiennachzug müssten zudem ausgesetzt werden. Die Regeln für den Abschiebearrest müssten vereinfacht und Ausreisepflichtige konsequent abgeschoben werden. “Es braucht wöchentliche, vielleicht auch sogar tägliche Flüge.” Benötigt werde auch ein Stopp der Visa-Vergabe für Personen aus Ländern wie Afghanistan.
Merz forderte in diesem Zusammenhang massenhafte Abschiebegewahrsam von Personen, die ausreisepflichtig seien. Der Bund dürfe den Ländern nicht mehr die Abschiebung allein überlassen. Die Zahl der Plätze im Abschiebegewahrsam müsse signifikant erhöht werden. Es sei inakzeptabel, dass nur 750 Plätze zur Verfügung stünden, obwohl es 42.000 “vollziehbar ausreisepflichtige” Personen gebe und weitere 180.000 Personen, die zwar ausreisepflichtig seien, aber in Deutschland geduldet würden. Wie viele Menschen Merz im Ausreisegewahrsam unterbringen will, sagte er nicht.
“DAS MUSS ZU UNSEREN REGELN STATTFINDEN”
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte bereits nach der Tat am Mittwoch erklärt, gegenüber Tätern, die als Schutzsuchende nach Deutschland gekommen seien, sei “falsch verstandene Toleranz völlig unangebracht”. Er hatte sich am Mittwochabend eigens mit Faeser und den Chefs der Sicherheitsbehörden zu einem Krisengespräch getroffen. Aus dem Innenministerium hieß es am Donnerstag, das Gespräch zwischen Kanzler und Ministerin sei vertraulich gewesen.
Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck verwies darauf, dass der mutmaßliche Täter psychische Probleme habe und bereits gewalttätig aufgefallen sei. “Wie konnte er trotzdem aus dem Blick geraten?” fragte Habeck auf X. FDP-Chef Christian Lindner mahnte, Deutschland müsse ein tolerantes Land bleiben. “Aber das muss zu unseren Regeln stattfinden, nicht zulasten unserer Sicherheit”, schrieb Lindner auf X.
(Bericht von Jörn Poltz, Alexander Ratz und Andreas Rinke, redigiert von Sabine Ehrhardt; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)