– von Andreas Rinke
Berlin (Reuters) – Wenige Wochen vor der Bundestagswahl könnte die tödliche Messerattacke in Aschaffenburg für einen brisante Präzedenzfall im Bundestag sorgen: Sollte die Union wie angekündigt kommende Woche Anträge auf eine radikale Änderung der Migrationspolitik einbringen, könnte es eine gemeinsame Abstimmung von CDU/CSU, AfD, FDP und BSW geben.
Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck warnten CDU-Chef Friedrich Merz vor einem “Dammbruch”. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt forderte die Mitte-Parteien SPD, Grüne und FDP dagegen gegenüber Reuters auf, den Plänen von Merz zuzustimmen, um eine Abhängigkeit von der AfD zu verhindern. Merz selbst betonte am Freitag: “Wir werden nächste Woche in den Deutschen Bundestag Anträge einbringen, die ausschließlich unserer Überzeugung sind. Und wir werden sie einbringen, unabhängig davon, wer ihnen zustimmt.”
CDU-Chef Merz hatte die Diskussion am Donnerstag ausgelöst, indem er einen für ihn nicht mehr zu verhandelnden Fünf-Punkte-Plan vorstellte. Die Union werde noch kommende Woche einen Antrag in den Bundestag einbringen, dass die Bundespolizei künftig Haftbefehle beantragen können solle. “Abschiebungen und Rückführungen müssen ab sofort täglich stattfinden”, hatte er hinzugefügt. Der Bund müsse sich daran beteiligen und mehr Plätze für Ausreisegewahrsam schaffen. Merz kündigte zudem an, dass er im Fall einer Wahl zum Bundeskanzler “am ersten Tag” seiner Amtszeit mit seiner Richtlinienkompetenz anweisen werde, die deutschen Staatsgrenzen zu allen Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen. Die Zurückweisung gelte “ausdrücklich auch für Personen mit Schutzanspruch”.
Die Union argumentiert, dass Kanzler Scholz nach dem Anschlag in Aschaffenburg selbst gesagt hatte, dass es Konsequenzen geben müsse. “Wer diesen Anträgen zustimmen will, der soll zustimmen”, sagte Merz am Freitag mit Blick auf das eigene Vorgehen. “Ich gucke nicht rechts und nicht links, ich gucke in diesen Fragen nur Geradeaus”.
Scholz, Habeck und die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, Katja Mast, warnten Merz aber, dass er einen “Dammbruch” riskiere. Er habe sich auf die Aussage des CDU-Vorsitzenden verlassen, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten. “Nun mache ich mir wirklich Sorgen, nachdem die CDU nun ihre Anträge im Bundestag mit Stimmen der AfD durchsetzen will”, sagte Kanzler Scholz der “Stuttgarter Zeitung” und der “Neuen Berliner Redaktionsgemeinschaft” (NBR). “Nach dem Bruch der Ampel hat Friedrich Merz im Bundestag selber den Vorschlag unterbreitet, auch in dieser Phase des Übergangs nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten”, sagte Habeck der Funke-Mediengruppe. Er fürchte, Merz stehe kurz vor dem Bruch dieser Zusage. Ähnlich äußerte sich Mast: “Damit hätte seine Zusammenarbeit mit der AfD im Bundestag einen Freifahrtschein”, sagte die SPD-Politikerin. AfD-Co-Chefin Alice Weidel schrieb auf X: “Die Brandmauer ist gefallen.”
Die SPD hatte die Merz-Vorschläge zuvor schon als rechtlich unmöglich bis schwierig eingestuft und der Union ein Ablenkungsmanöver vorgeworfen. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese forderte die Union auf, endlich den vorliegenden Gesetzentwürfen für schärfere Sicherheitsgesetze und der nationalen Umsetzung der Europäischen Asylreform zuzustimmen.
AFD UND BSW WITTERN IHRE CHANCE
Hintergrund der Eskalation ist auch die Erwartung, dass die AfD-Fraktion kommende Woche selbst Anträge zu Aschaffenburg einbringen will. In der Union fürchtet man, dass es in der Bevölkerung schlecht ankommt, wenn die Mehrheit des Parlaments diese Anträge nicht zur Abstimmung kommen lässt oder dagegen stimmt. CDU und CSU treten für die Wahl selbst mit der Forderung nach einer radikalen Wende in der Asylpolitik an. Merz bekräftigte am Freitag, dass man für keinen einzigen AfD-Antrag stimmen wolle. Deshalb plane die Unionsfraktion nun eigene Anträge. Die Menschen hätten die “Nase voll” von Erklärungen von Politikern, ohne dass sich etwas grundlegend ändere.
Ob es wirklich zu einer Gesetzesänderung kommt, ist allerdings alles andere als klar. Denn über eingebrachte Anträge wird zwar im Bundestag beraten, sie landen aber meist in Ausschüssen, so dass vor der Bundestagswahl keine finale Abstimmung mehr möglich wäre. Mit einem Antrag zur Geschäftsordnung könnte die Union auch eine sofortige zweite und dritte Lesung anstreben. Die Crux: Dafür ist eine Zweidrittel-Mehrheit nötig – die ohne SPD und Grüne nicht erreichbar ist. Sollte die Zweidrittel-Mehrheit erreicht werden, könnten Gesetzesänderungen am Folgetag beschlossen werden.
Das Kalkül der Union ist nach Angaben aus der Fraktion, dass man mangelnde Entschlossenheit bei SPD und Grünen bei dem Thema zeigen kann. Das Risiko liegt aber darin, dass die Union etwa beim Geschäftsordnungsantrag plötzlich mit AfD, BSE und FDP zusammen abstimmen könnte. Denn aus allen drei Parteien kam am Freitag Zustimmung zu den Unions-Plänen. “Wenn die Union sinnvolle Anträge in den Deutschen Bundestag einbringt, um die unkontrollierte Migration zu beenden und Ausreisepflichtige in ihre Heimatländer zurückzuführen, dann stimmen wir ihnen selbstverständlich zu”, sagte BSW-Chefin Sahra Wagenknecht dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
“Sollte Herr Merz also in der kommenden Sitzungswoche nun diesen Plan in den Bundestag einbringen und Sofortabstimmung beantragen, könnte er tatsächlich Wirklichkeit werden – zusammen mit den Stimmen von AfD, FDP und etlichen Fraktionslosen”, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, der “Rheinischen Post”. Auch FDP-Chef Christian Lindner signalisierte Zustimmung: “Guten Vorschlägen stimmen wir … in der Regel zu. Mehr Konsequenz und Kontrolle bei der Migration fordern wir ja schon lange”, schrieb er auf X.
(Mitarbeit: Holger Hansne, Alexander Ratz; redigiert von Sabine Ehrhardt. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)