– von Andreas Rinke und Alexander Ratz
Berlin (Reuters) – In einer erbitterten Bundestagsdebatte haben sich SPD, Grüne und Union gegenseitig die Verantwortung dafür gegeben, dass der Bundestag am Freitag erstmals ein Gesetz mit Stimmen der rechtspopulistischen AfD beschließen könnte.
Sowohl Kanzler Olaf Scholz (SPD) als auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) warfen Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz einen Tabubruch vor. Der CDU-Chef breche den jahrzehntelangen Grundkonsens der Republik, nicht mit extremen Rechten zusammenzuarbeiten, sagte Kanzler Scholz in seiner Regierungserklärung zu den Anschlägen in Magdeburg und Aschaffenburg im Bundestag. “Stimmen Sie nicht mit denen ab, in dieser entscheidenden Frage”, appellierte auch Habeck an die Union.
Merz wies die Vorwürfe zurück und sagte, dass er es mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren könne, die richtigen Dinge nicht tun zu können. Entscheidend sei, das Richtige zu tun, auch wenn die Falschen zustimmten, betonte er. SPD und Grüne könnten die Mehrheitsfindung mit der AfD verhindern, wenn sie den Unions-Vorschlägen für eine entscheidende Wende in der Asylpolitik zustimmen würden. Er betonte ebenso wie FDP-Chef Christian Lindner, dass er keine Zusammenarbeit mit der AfD wolle. AfD-Chefin Alice Weidel wiederum kritisierte die sogenannte Brandmauer, die eine “antidemokratische Kartellabsprache” sei. Merz habe nur eine Chance auf die Zustimmung einer harten Asyl-Politik, wenn er mit der AfD koaliere. Sie warf Merz zudem vor, die Forderungen ihrer Partei in der Asylpolitik kopiert zu haben.
ABSTIMMUNGEN NACH REGIERUNGSERKLÄRUNG
Der Bundestag wird nach der Debatte über zwei Unions-Anträge namentlich abstimmen. Umstritten ist vor allem der Antrag, der dauerhafte Kontrollen an den deutschen Grenzen und die Zurückweisung aller Flüchtlinge vorsieht. SPD, Grüne und Linke kündigten ihre Ablehnung an, weil die Unions-Pläne gegen deutsches und europäisches Recht verstießen. Dies wies Merz zurück. Union, FDP und AfD wollen für den Antrag stimmen. BSW-Chefin Sahra Wagenknecht sagte, ihre Partei wolle sich enthalten. Damit gilt eine Mehrheit als unsicher. Habeck warf der FDP vor, dass der frühere Justizminister Marco Buschmann (FDP) selbst darauf verwiesen habe, dass die nun angestrebten Reformen nicht rechtskonform seien. Lindner wiederum bezeichnete die Grünen wegen des Widerstands gegen Reformen als Steigbügelhalter der AfD.
Ein zweiter Unions-Antrag für schärfere Sicherheitsgesetze wird keine Mehrheit bekommen, weil nicht nur SPD, Grüne und Linke, sondern auch die FDP, die AfD und das BSW dagegen stimmen werden.
SPD und Grüne wollen am Donnerstag ihrerseits Sicherheitsgesetze einbringen, die zuvor von der Union abgelehnt worden waren. Am Freitag will die Union dann wiederum über ein im Innenausschuss des Bundestags liegendes Gesetz zur “Zustrombegrenzung” abstimmen lassen, das unter anderem einen Stopp des Familiennachzugs für Personen mit eingeschränktem Schutzstatus vorsieht. Hier haben neben der Union die AfD, das BSW und die FDP bereits Zustimmung zugesagt. Erstmals könnte dann nicht nur ein Antrag, sondern ein Gesetz mit den entscheidenden Stimmen der Rechtspopulisten beschlossen werden.
KIRCHEN: “TONLAGE BEFREMDET UNS ZUTIEFST”
Auch von der katholischen und der evangelischen Kirche kam scharfe Kritik an CDU und CSU: “Die Fraktionen haben sich mit der Auflösung der Ampelkoalition darauf verständigt, keine Abstimmungen herbeizuführen, in der die Stimmen der AfD ausschlaggebend sind. Wir befürchten, dass die deutsche Demokratie massiven Schaden nimmt, wenn dieses politische Versprechen aufgegeben wird”, heißt es mahnend in einem gemeinsamen Brief von Prälatin Anne Gidion als Bevollmächtigte des Rates der EKD und Prälat Karl Jüsten für das Kommissariat der deutschen Bischöfe an die Bundestagsabgeordneten.
“Zeitpunkt und Tonlage der aktuell geführten Debatte befremden uns zutiefst. Sie ist dazu geeignet, alle in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten zu diffamieren, Vorurteile zu schüren und trägt unserer Meinung nach nicht zur Lösung der tatsächlich bestehenden Fragen bei”, heißt es in dem Schreiben. “Überrascht nicht, interessiert nicht”, schrieb der CDU-Abgeordnete Steffen Bilger zu der Kritik der Kirchen auf der Plattform X. Sowohl der Kanzler als auch der Oppositionsführer warnten aber davor, dass die Debatte nicht zu einer Art Generalverdacht gegen Migranten in Deutschland werden dürfe.
(Mitarbeit: Holger Hansen. Redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)