Kiew (Reuters) – Die Schutzhülle des 1986 havarierten Atomkraftwerks Tschernobyl ist dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge bei einem russischen Drohnenangriff erheblich beschädigt worden.
Der Drohneneinschlag in der Nacht zu Freitag habe ein Feuer verursacht, das inzwischen aber wieder gelöscht sei. Die Strahlenbelastung habe mit Stand am Freitagmorgen nicht zugenommen, teilte Selenskyj auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit. Auch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA erklärte, die Werte seien nicht erhöht. Die russische Drohne habe die Schutzhülle des zerstörten Kraftwerksblocks getroffen und einen Brand verursacht, schrieb Selenskyj. Nach ersten Erkenntnissen sei der Schaden erheblich.
Russland wies den Vorwurf eines Drohnenangriffs zurück. Der Sprecher des Präsidialamtes in Moskau, Dmitri Peskow, sagte, er habe keine genauen Informationen. Die russischen Truppen griffen aber keine Atomanlagen an, sagte er und sprach von einer Provokation seitens der Ukraine.
“Das einzige Land der Welt, das solche Anlagen angreift, Atomkraftwerke besetzt und Krieg führt, ohne Rücksicht auf die Folgen, ist das heutige Russland”, sagte hingegen Selenskyj. Sein Stabschef Andrij Jermak veröffentlichte Fotos der Schutzhülle, in deren Bogen sich offenbar ein kleines Feuer in der Nähe der Spitze befand. Die Hülle (auch New Safe Confinement genannt) ist eine gewaltige, bogenförmige Stahl- und Betonkonstruktion, die 2019 fertiggestellt wurde. Sie deckt die frühere Schutzhülle ab, die nach dem Unfall errichtet wurde, aber verfallen war – den sogenannten Sarkophag. Die heutige Konstruktion ist 108 Meter hoch, 162 Meter lang und hat eine Spannweite von 257 Metern. Nach Angaben der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung hat sie eine Lebensdauer von mindestens 100 Jahren.
Die Atom-Katastrophe ereignete sich am 26. April 1986 in Block 4. des AKW Tschernobyl in der Nähe der Stadt Prypjat im Norden der Ukraine. Bei einem planmäßigen Test kam es zum folgenschwersten Unfall in der zivilen Nutzung der Atomenergie. Der Reaktorkern wurde zerstört, bei der Explosion wurde die Reaktorhalle zerstört, und Radioaktivität wurde in erheblichen Mengen freigesetzt. Sie wurde durch die Luftströmung in weite Teile Europas verbreitet, eine radioaktive Wolke erreichte auch Deutschland. Die Führung der – damals noch existierenden – Sowjetunion gab den Unfall erst zwei Tage später bekannt, nachdem in Finnland und Schweden erhöhte Radioaktivität gemessen worden war. Der letzte noch aktive Reaktor des AKW Tschernobyl wurde im Jahr 2000 stillgelegt.
Russische Truppen besetzten das Kraftwerk und die Umgebung während ihres Vorstoßes auf die ukrainische Hauptstadt Kiew zu Beginn ihrer Invasion Ende Februar 2022 über einen Monat lang. Sie mussten sich wegen der ukrainischen Gegenwehr aber rasch wieder zurückziehen.
(Bericht von: Max Hunder, Anastasiia Malenko, Sabine Ehrhardt, redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)