(Stellt im vierten Absatz klar: Unions-Parteien kommen ohne Rundungsfehler zusammen auf 28,5, nicht 28,6 Prozent. Die Bundeswahlleiterin weist für die CDU 22,6 Prozent und für die CSU 6,0 Prozent aus. Nach den Stimmanteilen liegt der gemeinsame Anteil aber bei 28,52 Prozent.)
Berlin (Reuters) – CDU-Chef Friedrich Merz wird aller Wahrscheinlichkeit nach nächster Bundeskanzler.
Die Union schnitt bei der Bundestagswahl am Sonntag als deutlich stärkste Partei, bekam allerdings weniger Stimmen als in vielen Umfragen erwartet wurde. “Jetzt werden wir miteinander reden”, sagte Merz mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen. Dem Ergebnis nach Auszählung aller Wahlkreise zufolge dürfte es für ein Zweier-Bündnis aus Union und SPD reichen. Merz rechnet mit einer schwierigen Regierungsbildung, die er aber bis Ostern abgeschlossen haben will. Angesichts der Wirtschaftskrise forderten Vertreter der Wirtschaft Tempo bei den Gesprächen und schnelle Reformen.
Bundeskanzler Olaf Scholz räumte seine Niederlage ein. Seine SPD fuhr das schlechteste Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte ein. Scholz will weder für ein Ministeramt in der neuen Regierung zur Verfügung stehen und auch nicht Verhandlungsführer der SPD in möglichen Gesprächen sein. SPD-Generalsekretär Matthias Miersch betonte, eine Regierungsbeteiligung der SPD sei kein Automatismus.
Merz will übernächste Woche mit Sondierungsgesprächen beginnen. “Spätestens nach der Hamburger Bürgerschaftswahl ist die Zeit gekommen, intensiv miteinander zu sprechen. Ich habe den Wunsch, dass wir spätestens Ostern mit einer Regierungsbildung fertig sind”, sagte der 69-Jährige dem TV-Sender Phoenix. Sollte es zu einem Zweier-Regierungsbündnis kommen, könne es auch schneller gehen.
AFD ZWEITSTÄRKSTE KRAFT
Nach der Auszählung aller Wahlkreise kommen CDU und CSU den Angaben der Bundeswahlleiterin auf der Webseite zufolge mit klaren Zuwächsen auf zusammen 28,5 Prozent. Es ist trotzdem ihr zweitschlechtestes Ergebnis der Nachkriegsgeschichte. Die AfD erzielt demnach 20,8 Prozent und wird mit diesem Rekordergebnis zweitstärkste Fraktion. Die SPD bricht auf 16,4 Prozent ein. Erstmals wurde mit Olaf Scholz ein SPD-Kanzler nach nur einer Amtszeit abgewählt. Die Grünen kommen mit Verlusten auf 11,6 Prozent. Die Linke legte deutlich zu und steht bei 8,8 Prozent. Ganz knapp verpasste das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mit 4,972 Prozent den Einzug in den Bundestag. Die FDP scheiterte zum zweiten Mal nach 2013 mit 4,3 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde.
Die Wahlbeteiligung lag laut ZDF bei 83 Prozent und damit deutlich höher als 2021 (76,4). Der nächste Bundestag wird 630 Abgeordnete haben. Für eine Mehrheit sind entsprechend 316 Stimmen nötig.
“DIE WELT WARTET NICHT AUF UNS”
Merz ist zwar seit Jahrzehnten in der Politik tätig, hatte aber noch nie ein Regierungsamt inne. Seit 2022 ist der Sauerländer CDU-Chef und Oppositionsführer, lange war er parteiintern Rivale von Ex-Kanzlerin Angela Merkel. Einer Zusammenarbeit mit der AfD erteilte Merz erneut eine klare Absage und warf der in Teilen rechtsradikalen Partei Russland-Freundlichkeit vor. Mit der Regierungsbildung will er aufs Tempo drücken. “Die Welt da draußen wartet nicht auf uns.” Er strebe eine größere Unabhängigkeit Europas von den USA an. Der US-Regierung von Präsident Donald Trump sei das Schicksal Europas “weitgehend gleichgültig”. Die Einmischung aus Washington zugunsten der AfD nannte Merz unverschämt und verglich sie mit Manipulationen vonseiten Russlands.
Elon Musk, Tesla-Chef und Berater der US-Regierung, hatte offen für die Unterstützung der AfD geworben. Trump begrüßte das Wahlergebnis in Deutschland. “Ähnlich wie in den USA hatten die Menschen in Deutschland genug von der Agenda ohne gesunden Menschenverstand, insbesondere in den Bereichen Energie und Einwanderung, die seit so vielen Jahren vorgeherrscht hat”, schrieb der Republikaner auf seiner Social-Media-Plattform Truth Social. “Dies ist ein großer Tag für Deutschland.”
Spitzenkandidatin Alice Weidel sieht die AfD als Volkspartei nun etabliert. “Vernünftigen Anträgen der Union” werde die AfD im Bundestag zustimmen. Sie bot erneut eine Zusammenarbeit mit der Union an. Union und AfD kämen zusammen auf eine Mehrheit im Bundestag.
LINDNER VOR RÜCKZUG AUS DER POLITIK
FDP-Chef Christian Lindner räumte die Niederlage seiner Partei ein und kündigte an, sich aus der Politik zurückzuziehen. Er werde dann nicht mehr neu antreten. Die Liberalen müssten sich anders aufstellen. Lindner hatte nach zwei Rezessionsjahren in Folge für einen radikalen Wechsel in der Wirtschaftspolitik geworben.
Stimmen aus der Wirtschaft plädierten für Tempo in den anstehenden Koalitionsverhandlungen. “Oberste Priorität sollte eine rasche Regierungsbildung haben, um eine Führungsrolle in Europa übernehmen zu können”, sagte die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer zu Reuters. Auch BDI-Chef Peter Leibinger forderte Tempo: “Die deutsche Wirtschaft braucht sehr schnell eine handlungsfähige neue Bundesregierung mit stabiler Mehrheit in der demokratischen Mitte.” Ähnlich äußerte sich IG-Metall-Chefin Christiane Benner: “Wir haben keine Zeit mehr. Die Industrie und die Beschäftigten können nicht Monate auf klare Perspektiven warten.”
Scholz sprach von einem “bitteren Wahlergebnis” für seine SPD. Er trage dafür Verantwortung. Laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen sagten nur zwölf Prozent der Befragten, Scholz wäre im Wahlkampf hilfreich gewesen. Ein Amtsbonus für den Kanzler war also nicht auszumachen. In einer Infratest-Umfrage gaben nur 30 Prozent an, Scholz sei dem Amt gewachsen. Bei der vorherigen Wahl 2021 waren es noch 66 Prozent gewesen. 82 Prozent sind mit der Ampel-Regierung von Scholz unzufrieden gewesen. Eine Kanzlereignung von Merz sehen 43 Prozent. 64 Prozent gaben allerdings an, es sei gut, dass er sich klar gegen irreguläre Einwanderung ausgesprochen hat.
(Bericht von Christian Krämer, Andreas Rinke, Alexander Ratz und Holger Hansen. Mitarbeit von Alexander Hübner, Rene Wagner, Markus Wacket, Thomas Escritt, Klaus Lauer und Reinhard Becker, redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)