– von Yurii Kovalenko
Kiew (Reuters) – Mitten im Ringen um eine Friedenslösung für die Ukraine hat Russland den schwersten Luftangriff auf deren Hauptstadt Kiew seit Jahresbeginn unternommen.
Bei dem Beschuss mit Raketen und Drohnen wurden in der Nacht zum Donnerstag mindestens zwölf Menschen getötet. Unter den mehr als 90 Verletzten waren nach Angaben der Rettungsdienste sechs Kinder. Gebäude wurden zerstört, Bewohner unter Trümmern begraben, und Brände brachen aus. Der Großangriff war ein politischer Rückschlag für US-Präsident Donald Trump, der den russischen Machthaber Wladimir Putin mit weit reichenden Zugeständnissen der Ukraine zu einer Beendigung seines mehr als drei Jahre währenden Angriffskriegs bewegen will. “Wladimir, STOP!”, schrieb Trump auf seiner Online-Plattform Truth Social. Er sei verärgert über die Angriffe: “Unnötig und sehr schlechtes Timing.”
Zuvor hatte Trump in Washington erklärt, Russland sei zu einer Übereinkunft bereit. “Und ich glaube, wir haben eine Vereinbarung mit Russland”, sagte Trump, der zugleich den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unter Druck setzte. Dieser machte deutlich, dass die Ukraine als Teil einer Übereinkunft nicht auf die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim verzichten werde. Über Social-Media-Kanäle kam es zu einem Wortgefecht der beiden Staatsoberhäupter.
Frankreich erklärte, die territoriale Integrität der Ukraine dürfe nicht angetastet werden. Dies sei ein Punkt, über den nicht verhandelt werden könne, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Paris.
Wegen des Großangriffs kündigte Selenskyj eine vorzeitige Rückkehr von seinem Besuch in Südafrika an. Selenskyj wertete die jüngsten russischen Angriffe als Teil einer Kampagne, mit der Russland Druck auf die USA ausübe. Er sehe hingegen nicht, dass die USA im Rahmen ihrer Friedensbemühungen starken Druck auf Russland ausübten. Es sei für die Ukraine bereits ein großer Kompromiss, Verhandlungen mit Russland zuzustimmen, sobald ein Waffenstillstand in Kraft sei.
INSIDER: NORDKOREANISCHE RAKETE AUF KIEW
Die russischen Streitkräfte setzten bei ihrem Angriff auf Kiew einem Insider zufolge auch eine aus Nordkorea stammende Rakete ein. Es handele sich um eine ballistische Rakete vom Typ KN-23 (KN-23A), verlautete aus ukrainischen Militärkreisen. Nordkorea unterstützt Russland in dem Krieg mit Rüstungsgütern und Soldaten.
Nach Angaben des ukrainischen Innenministers Ihor Klymenko griff Russland außer Kiew und dessen Umland auch die zweitgrößte Stadt Charkiw und weitere Städte an.
In Kiew waren Rettungsteams mit Kletterspezialisten und Spürhunden an 13 Standorten im Einsatz, teilten die Einsatzkräfte mit. Es gebe 40 Brände. “Unter den Trümmern hört man das Klingeln von Mobiltelefonen”, hieß es bei den Rettungskräften. “Die Suche wird fortgesetzt, bis klar ist, dass alle gefunden wurden.” Durch den Beschuss wurde unter anderem ein Wohnhaus in einem Bezirk westlich des Stadtzentrums zerstört. Auf über Telegram veröffentlichten Bildern war zu sehen, wie Rettungsteams vorsichtig durch Trümmerhaufen stiegen.
“Die Luftschutzsirene heulte, wir hatten nicht einmal Zeit, uns anzuziehen und die Wohnung zu verlassen”, sagte eine Einwohnerin in Kiew. “Eine Explosion folgte der anderen, alle Fenster, Türen und Wände wurden herausgesprengt, mein Mann und mein Sohn wurden auf die andere Seite geschleudert.” Russland setzte laut ukrainischer Luftwaffe 145 Drohnen und 70 Raketen ein, darunter elf ballistische Raketen. 112 Geschosse seien abgefangen worden.
Russland gab an, es habe sich um einen Angriff auf Anlagen der ukrainische Rüstungsindustrie gehandelt. Mit Hochpräzisionswaffen hätten die Streitkräfte Fabriken der Luft- und Raumfahrt, des Maschinenbaus sowie für Panzerfahrzeuge getroffen, erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau. Reuters konnte diese Darstellung nicht überprüfen.
VANCE WARNT: USA KÖNNTEN SICH ZURÜCKZIEHEN
Trump äußerte sich am Mittwoch im Weißen Haus. Russland sei zu einer Übereinkunft bereit, sagte Trump. Zur Ukraine sagte er: “Wir müssen eine Einigung mit Selenskyj erzielen.” Dies sei schwieriger, als er zuerst erwartet habe. “Aber ich glaube, wir haben eine Vereinbarung mit beiden.” Einzelheiten wurden zunächst nicht bekannt.
US-Vizepräsident JD Vance sagte bei einem Besuch in Indien, es sei an der Zeit, dass Russland und die Ukraine entweder einem US-Friedensvorschlag zustimmten “oder dass die Vereinigten Staaten aus diesem Prozess aussteigen”. Der Vorschlag sehe ein Einfrieren der territorialen Grenzen “auf einem Niveau nahe dem heutigen” und eine diplomatische Lösung vor, “die hoffentlich zu einem langfristigen Frieden führen wird”. Laut einem ehemaligen westlichen Regierungsvertreter sieht der US-Vorschlag die Anerkennung der russischen Annexion der Krim vor.
Selenskyj hatte bekräftigt, dass die Ukraine die Krim niemals an Russland abtreten werde. Russland hatte die Halbinsel 2014 in einem international verurteilten Schritt unter seine Kontrolle gebracht. “Es gibt hier nichts zu besprechen. Das verstößt gegen unsere Verfassung”, sagte Selenskyj.
TRUMP KRITISIERT SELENSKYJ
Trump bezeichnete dies als eine aufrührerische Aussage des ukrainischen Präsidenten, die den Frieden erschwere. In einem Social-Media-Beitrag schrieb er, die Krim sei schon vor Jahren verloren gegangen und “nicht einmal ein Diskussionspunkt”. Selenskyj räumte später auf der Kurzmittelungsplattform X ein, dass Gespräche zwischen US-amerikanischen, ukrainischen und europäischen Politikern in London von starken Emotionen geprägt gewesen seien. Er äußerte aber die Hoffnung, dass die Zusammenarbeit zum Frieden führe.
Seinem Post auf X fügte Selenskyj eine Krim-Erklärung von Mike Pompeo aus dem Jahr 2018 bei, Trumps Außenminister während seiner ersten Amtszeit. Darin hieß es: “Die Vereinigten Staaten lehnen den Versuch Russlands ab, die Krim zu annektieren, und verpflichten sich, diese Politik beizubehalten, bis die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt ist.”
Mehreren Insidern zufolge umfassen die US-Vorschläge nicht nur die Anerkennung der russischen Annexion der Krim, sondern auch die Akzeptanz der russischen Kontrolle über jene 20 Prozent des ukrainischen Territoriums, die Russland im Krieg erobert hat, den Ausschluss einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und die Aufhebung westlicher Sanktionen gegen Russland.
(Bericht von Yurii Kovalenko, Ron Popeski, Anna Pruchnicka, Gram Slattery, Elizabeth Piper, Dmitry Antonov, Doina Chiacu, John Irish, Yuliia Dysa und Anna Pruchnicka, geschrieben von Holger Hansen und Jörn Poltz, redigiert von Hans Busemann.; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)