– von Joyce Lee und Ju-min Park
Seoul (Reuters) – Einen Monat vor der Präsidentschaftswahl in Südkorea ist das Land von einem Urteil zum führenden Kandidaten und Rücktritten in der Regierung erschüttert worden.
Das Oberste Gericht stellte am Donnerstag die Eignung des Oppositionskandidaten Lee Jae Myung für das höchste Staatsamt infrage. Nun muss ein untergeordnetes Gericht entscheiden, ob der in Umfragen führende Lee am 3. Juni antreten darf. Im Laufe des Tages gab dann Regierungschef Han Duck Soo seinen Rücktritt bekannt. Er dürfte in den Wahlkampf eintreten. Han hatte übergangsweise das Präsidialamt bekleidet, das er eigentlich Finanzminister Choi Sang Mok übergeben sollte. Dieser sagte jedoch nicht nur kurzfristig ab, sondern gab auch seinen Kabinettsposten auf. Gegen Choi läuft ein Amtsenthebungsverfahren im Parlament. Damit wurde Bildungsminister Lee Ju Ho zunächst Interimsstaatschef.
Südkorea steckt seit Monaten in einer politischen Krise, nachdem Präsident Yoon Suk Yeol des Amtes enthoben wurde. Er hatte im Dezember vorübergehend das Kriegsrecht ausgerufen. Seitdem haben verschiedene Politiker die Staatsführung übernommen. Darunter war Ministerpräsident Han, der allerdings am 27. Dezember durch das Parlament gestürzt wurde, um dann vom Obersten Gericht am 24. März wieder eingesetzt zu werden. Lee machte in dieser Phase in Umfragen immer weiter Boden gut. Er kletterte während der akuten Krise über die Mauern der Nationalversammlung, um Sicherheitskordons zu umgehen, die auf Yoons Befehl eingesetzt worden waren. In der live übertragenen Aktion forderte er die Zuschauer auf, vor dem Parlament zu demonstrieren, um die Festnahme von Abgeordneten zu verhindern.
Allerdings befand das Oberste Gericht am Donnerstag, dass Lee 2022 mit falschen Aussagen die Wählerschaft in die Irre geführt und somit gegen Wahlgesetze verstoßen habe. Das Gericht gelangte damit zu einer anderen Auffassung als eine niedere Instanz, die ihn freigesprochen hatte. Ein Berufungsgericht muss nun entscheiden, ob Lee von der Wahl disqualifiziert wird. Lee hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Er erklärte in einer ersten Reaktion, dass er nicht mit dieser Entscheidung des Obersten Gerichts gerechnet habe. Er bleibe jedoch zuversichtlich.
Es war zunächst unklar, ob das Berufungsgericht noch vor der Wahl ein Urteil fällen würde. Sollte es Lee für schuldig befinden, würde er für mindestens fünf Jahre von Wahlen ausgeschlossen. Experten zufolge dürfte Lee jedoch bereits politischen Schaden genommen haben. Der Politikwissenschaftler Shin Yul sprach von einem Schlag für Lee und dessen liberal ausgerichtete Demokratische Partei. “Das Berufungsgericht wird entscheiden, ob er für ein Amt kandidieren darf oder nicht”, sagte er. “Aber das Oberste Gericht hat ihn im Grunde für schuldig befunden. Moderate Wähler, zehn Prozent der Gesamtzahl, werden von dieser Nachricht beeinflusst werden.”
(Geschrieben von Christian Rüttger und Scot W. Stevenson, redigiert von Kerstin Dörr; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)