Ein Arm so breit wie ein Daumen – Unterernährte Kinder im Gazastreifen

– von Dawoud Abu Alkas und Hatem Khaled

Chan Junis (Reuters) – Ein Krankenhaus im Gazastreifen: Kinder laufen fröhlich umher. Sie lachen. Sie spielen mit Luftballons und Blumen.

Es sind nur Zeichnungen, die an den rosafarbenen Wänden in der Kinderstation für Unterernährte im Nasser-Krankenhaus in Chan Junis prangen. Unter den Wandbildern wacht eine Handvoll palästinensischer Mütter über ihre Babys. Diese Kinder liegen still und stumm. Sie sind vom Hunger zu erschöpft, als dass sie noch weinen könnten.

Diese Stille sei normal, erklären Ärzte und Pflegekräfte Reuters-Reportern, die sich in der vergangenen Woche fünf Tage lang im Nasser-Krankenhaus aufgehalten haben. In der Zeit wurden nach Angaben des Stationsleiters 53 akut unterernährte Kinder in das Krankenhaus eingeliefert. Es ist eines von nur noch vier solcher Medizinzentren im Gazastreifen, die in der Lage sind, die am stärksten hungernden Kinder zu behandeln.

“Sie ist immer lethargisch, sie liegt einfach so da”, sagt Seina Radwan, die Mutter der erst zehn Monate alten Maria Suhaib. “Sie reagiert überhaupt nicht.” Seina Radwan konnte weder Milch noch ausreichend Nahrung für ihr Baby auftreiben. Sie kann ihre Tochter nicht stillen, weil sie selbst unterernährt ist und gerade einmal eine Mahlzeit am Tag hat.

Die Nahrungsmittelvorräte im Gazastreifen gehen zur Neige, seit Israel, das seit Oktober 2023 im Krieg mit der radikal-islamischen Hamas ist, im März jegliche Lieferungen in das ohnehin seit langem abgeriegelte Palästinensergebiet eingestellt hat. Die Blockade wurde zwar im Mai aufgehoben. Allerdings gelten erhebliche Einschränkungen, die nach Ansicht Israels notwendig sind, um zu verhindern, dass Hilfsgüter an militante Gruppen umgeleitet werden.

Als die Vorräte zur Neige gingen, eskalierte die Situation im Juni und Juli. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor Massenhunger. Bilder ausgemergelter Kinder schockieren die Welt. Den Gesundheitsbehörden im Gazastreifen zufolge starben bislang 154 Menschen an Unterernährung, darunter 89 Kinder. Die meisten von ihnen starben in den vergangenen Wochen.

“Es gibt dort viele hungernde Menschen”, sagte selbst US-Präsident Donald Trump, der engste Verbündete des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, erst am Montag. Israel trage eine große Verantwortung für die Hilfslieferungen. Die USA würden mit anderen Ländern zusammenarbeiten, um mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen zu bringen, darunter auch Lebensmittel, sagte Trump. Netanjahu hingegen beharrt darauf, dass es “keine Hungersnot im Gazastreifen” gebe. Seine weit rechts stehende Regierung betont, sie habe nicht das Ziel, den Gazastreifen auszuhungern. Diese Woche kündigte Israel Maßnahmen an, um mehr Hilfe in den weitgehend zerstörten Gazastreifen zu bringen. Dazu gehören die Einstellung der Kämpfe an einigen Stellen, der Abwurf von Nahrungsmitteln aus der Luft, wie dies etwa Deutschland und Jordanien planen, und die Bereitstellung sichererer Routen.

Die Vereinten Nationen erklären, der Bedarf an Hilfsgütern sei enorm, um eine Hungersnot und eine Gesundheitskrise noch abzuwenden. “Wir brauchen Milch für Babys. Wir brauchen medizinisches Material. Wir brauchen Lebensmittel, Spezialnahrung für die Ernährungsabteilung”, zählt Dr. Ahmed al-Farra auf, der Leiter der Kinder- und Entbindungsabteilung im Nasser-Krankenhaus. “Wir brauchen alles für die Krankenhäuser.”

Israelischen Behörden zufolge litten viele der Menschen, die im Gazastreifen an Unterernährung starben, an Vorerkrankungen. Experten zufolge ist das freilich typisch für die Anfangsphase einer Hungerkrise. “Kinder mit Vorerkrankungen sind anfälliger. Sie sind früher betroffen”, erläutert Marko Kerac, Professor an der London School of Hygiene and Tropical Medicine, der an der Ausarbeitung der WHO-Behandlungsrichtlinie für schwere akute Unterernährung mitgewirkt hat.

Farra berichtet, sein Krankenhaus behandele derzeit unterernährte Kinder, die keine vorherigen gesundheitlichen Probleme hatten. Zu ihnen gehört Watin Abu Amunah, die vor fast drei Monaten gesund zur Welt kam. Heute wiegt das kleine Mädchen 100 Gramm weniger als bei seiner Geburt. “In den vergangenen drei Monaten hat sie kein einziges Gramm zugenommen”, sagt der Arzt. “Im Gegenteil, das Gewicht des Kindes hat abgenommen. Es gibt einen vollständigen Verlust der Muskulatur. Über den Knochen ist nur noch Haut, was ein Hinweis darauf ist, dass das Kind in eine Phase schwerer Unterernährung geraten ist”, sagt Farra. “Sogar im Gesicht des Kindes: Es hat Fettgewebe in den Wangen verloren.”

Jasmin Abu Sultan, die Mutter der Kleinen, deutet auf die Gliedmaßen ihres Kindes: Watins Arme sind gerade einmal so breit wie der Daumen ihrer Mutter. “Sehen Sie? Das sind ihre Beine. Sehen Sie sich ihre Arme an.”

VORRÄTE GEHEN ZUR NEIGE – WENIGE PLÄTZE IM KRANKENHAUS

Vor allem die jüngsten Babys bräuchten spezielle, mit sauberem Wasser hergestellte therapeutische Säuglingsnahrung, und die Vorräte würden knapp, erklären Farra und die WHO gegenüber Reuters. “Alle wichtigen Vorräte zur Behandlung schwerer akuter Unterernährung, einschließlich der medizinischen Komplikationen, gehen zur Neige”, berichtet Marina Adrianopoli, die für die Ernährungshilfe im Gazastreifen zuständige WHO-Leiterin. “Die Lage ist wirklich kritisch.” Auch die Behandlungszentren seien überlastet.

In den ersten beiden Juli-Wochen wurden laut WHO mehr als 5000 Kinder unter fünf Jahren wegen Unterernährung ambulant behandelt, 18 Prozent von ihnen litten an der schwersten Form. Dies sei ein deutlicher Anstieg gegenüber den 6500 Fällen im gesamten Juni, die bereits den höchsten Stand des Krieges darstellten. Und mit ziemlicher Sicherheit sei die Schätzung zu niedrig, so die WHO. Im Juli wurden 73 Kinder mit Unterernährung und Komplikationen ins Krankenhaus eingeliefert, im Juni waren es 39. Es herrscht ein Mangel an Krankenhausplätzen.

Watins Mutter berichtet, sie habe im Juni versucht, ihr Mädchen im Medizinzentrum unterzubringen, aber das sei voll gewesen. Nachdem es zehn Tage lang keine Milch gab und der Rest der Familie kaum eine Mahlzeit am Tag hatte, sei sie vergangene Woche zurückgekehrt, weil sich der Zustand ihrer Tochter verschlechtert habe. Wie viele Kleinkinder im Nasser-Krankenhaus leidet auch Watin unter Fieber und Durchfall. Es sind Krankheiten, die unterernährte Kinder immer wieder heimsuchen und ihr Leben in Gefahr bringen.

“Wenn sie in diesem Zustand bleibt, werde ich sie verlieren”, befürchtet Watins Mutter, Jasmin Abu Sultan. Die Kleine wird weiterhin im Krankenhaus behandelt. Ihre Mutter lebt von der einzigen Mahlzeit am Tag, die das Krankenhaus bereitstellen kann. Sie ermuntert Watin immer wieder, kleine Schlucke aus der Flasche mit Säuglingsnahrung zu trinken. Doch eine Nebenwirkung schwerer Unterernährung ist Ärzten zufolge Appetitlosigkeit – als wäre selbst Essen und Trinken dem geschwächten Körper zu viel.

Einige der Babys, die Reuters-Reporter in dem Krankenhaus gesehen haben, wurden am Wochenende entlassen, sobald sie an Gewicht zugenommen hatten. So wie die zehn Monate alte Maria. Auch sie bekam Säuglingsnahrung mit – zur Versorgung zuhause.

Andere haben nicht überlebt. So wie die fünf Monate alte Sainab Abu Halib. Sie starb am Samstag an einer Sepsis. Auch ihre Eltern trugen den schmalen Körper ihres Kindes, gehüllt in ein weißes Leichentuch, aus dem Krankenhaus – zur Beerdigung.

(geschrieben von Sabine Ehrhardt, redigiert von Christian Rüttger. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)

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