Scholz verliert Vertrauensfrage – Weg zu Neuwahlen frei

– von Andreas Rinke und Alexander Ratz

Berlin (Reuters) – Kanzler Olaf Scholz hat am Montag erwartungsgemäß die von ihm gestellte Vertrauensfrage im Bundestag verloren und damit den Weg für vorgezogene Neuwahlen frei gemacht.

Von den 733 Abgeordneten sprachen ihm 394 das Misstrauen aus, 116 enthielten sich. In der mehr als zweistündigen Aussprache zuvor lieferten sich vor allem die Spitzenkandidaten der Parteien einen heftigen Schlagabtausch und läuteten den Wahlkampf ein. Scholz sagte in seiner Erklärung, dass Deutschland vor einer Richtungsentscheidung stehe. “Die Vertrauensfrage richte ich deshalb heute an alle Wählerinnen und Wähler.” Es gehe darum, ob man künftig sowohl Investitionen tätige, die Ukraine weiter unterstütze und dies gegen “gute Gesundheit und Pflege, gegen stabile Renten und leistungsfähige Kommunen” ausspielen wolle. Redner von Union, FDP, AfD, Linke und BSW griffen den Kanzler scharf an. Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz sagte, dass Scholz das Vertrauen nicht mehr verdiene und attackierte auch die Grünen. “Sie sind das Gesicht der Wirtschaftskrise in Deutschland”, sagte er zu Vizekanzler Robert Habeck.

Während Scholz und die anderen Redner die Chance nutzten, Wahlversprechen ihrer Parteien in den Mittelpunkt zu stellen, attackierten der Kanzler und SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich auch den ehemaligen Koalitionspartner FDP und dessen Vorsitzenden Christian Lindner. “In eine Regierung einzutreten, dafür braucht es die nötige sittliche Reife. Wer in eine Regierung eintritt, der trägt Verantwortung für das ganze Land”, sagte der Kanzler in Anspielung auf die FDP und deren Vorbereitungen für einen Bruch der Ampel-Koalition. Auch Mützenich griff Lindner und FDP-Fraktionschef Christian Dürr persönlich an. Dass er selbst wochenlang getäuscht wurde, werde er nicht vergessen. Während der frühere Finanzminister darauf nicht reagierte, warf CDU-Chef Merz dem Kanzler vor, “das ist nicht nur respektlos, sondern es ist eine blanke Unverschämtheit”. Auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt kritisierte die Äußerungen des Kanzlers.

SCHRITT ZUR AUFLÖSUNG DES PARLAMENTS

Der Bundestag hat erst zum sechsten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik über eine Vertrauensfrage abgestimmt. Scholz beantragte noch am Nachmittag bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Auflösung des Parlaments, über die dieser in einigen Tagen entscheiden wird. Für den 23. Februar 2025 sind vorgezogene Bundestagswahlen vorgesehen. Scholz, der nach dem Bruch der Ampel-Regierung eine rot-grüne Minderheitsregierung anführte, ist nun geschäftsführender Kanzler bis zur Bildung einer neuen Regierung.

Die SPD-Fraktion hatte ankündigte, Scholz in der Abstimmung das Vertrauen auszusprechen. Die Grünen hatten eine Enthaltung angekündigt – auch um zu verhindern, dass etwa die AfD dafür sorgen könnte, dass das angestrebte Misstrauensvotum scheitern könnte. Bereits am Dienstag stellen mehrere Parteien offiziell ihre Wahlprogramme vor.

SCHOLZ UND MERZ SEHEN RICHTUNGSENTSCHEIDUNG

“Trauen wir uns zu, als starkes Land kraftvoll in unsere Zukunft zu investieren?”, sagte Scholz in seiner Erklärung zur Vertrauensfrage. “Diese Entscheidung ist so grundlegend, dass sie vom Souverän selbst getroffen werden muss.” Deshalb habe er den Weg für Neuwahlen frei gemacht. Union, FDP und AfD kritisierten, dass der Kanzler mit der Vertrauensfrage noch wochenlang gewartet habe, obwohl SPD und Grüne nur noch eine Minderheitsregierung bilden konnten. Er verwies darauf, dass die SPD einen Deutschlandfonds für mehr Investitionen wolle, aber auch eine moderate Reform der Schuldenbremse. Alle westlichen G7-Länder hätten eine Staatsverschuldung von über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. “Unsere sinkt in Richtung 60 Prozent. Wir müssen den Hebel umlegen”, sagte Scholz mit Blick auf eine Reform der Schuldenbremse.

Redner von Union und FDP kritisierten dagegen, dass SPD und Grünen als Antwort auf die Wirtschaftskrise nur Steuererhöhungen und mehr Schulden einfielen. Beide Parteien wollten mit Neid Wahlkampf machen, sagte FDP-Chef Lindner. “Neid schafft keinen Arbeitsplatz, Neid schafft keinen Aufschwung.” Es müsse endlich anerkannt werden, dass Aufstieg etwas mit Leistung zu tun habe.

Merz kündigte eine Neuaufstellung der Wirtschafts- und Finanzpolitik an und warf Scholz vor, dass er auch in Europa Vertrauen verspielt habe. Es sei bezeichnend, dass in der Rede des Kanzlers die Formulierung “Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft” nicht ein einziges Mal vorgekommen sei. “Sie, Herr Scholz, haben Vertrauen nicht verdient”, sagte Merz mit Blick auf die Vertrauensfrage.

Habeck antwortete mit heftigen Angriffen vor allem auf die Union. Deren am Wochenende bekannt gewordenes Wahlprogramm mit Versprechen von 100 Milliarden Euro pro Jahr sei nicht gegenfinanziert und deshalb das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt sei, sagte der Grünen-Politiker. CDU/CSU bewiesen mit ihren Vorschlägen, dass sie zurück in die Vergangenheit wollten. Besonders bei der Klimapolitik drohe ein Rückschlag mit der Union.

WARNUNG VOR INSTABILITÄT

Der Vizekanzler warnte, dass es für die nächste Bundesregierung nicht einfacher werde. “Es gibt keine Garantien, dass wir nach einer Neuwahl zu einer schnellen und reibungslosen Regierung zurückkommen.” Es gehe bei den Neuwahlen auch darum, Vertrauen zurückzugewinnen. Es müsse dafür gesorgt werden, dass Deutschland handlungsfähig bleibe.

Scholz forderte Wählerinnen und Wähler in Anspielung auf AfD und BSW auf, daran zu denken, dass bei der Bundestagswahl “erstmals gleich mehrere Parteien in den Bundestag gelangen (könnten), die diesen Grundkonsens unserer Republik ablehnen”. “Sie alle bitte ich: Lassen Sie uns die Errungenschaften bewahren, die Deutschland stark und wohlhabend gemacht habe.”

(Bericht von Andreas Rinke, Alexander Ratz; redigiert von Sabine Ehrhardt; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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