Berlin (Reuters) – Kurz vor der Bundestagswahl befürchten drei von vier Deutschen, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet.
Zudem nehmen die wirtschaftlichen Sorgen der Bevölkerung stark zu, wie eine Sonderbefragung der Langzeitstudie “Die Ängste der Deutschen” am Montag zeigte. Die R+V Versicherung befragte dazu vom 23. bis 25. Januar online 1000 Personen. “Drei Viertel der Deutschen sind in großer Sorge, dass die Spaltung der Gesellschaft zunimmt und zu Konflikten führt”, sagte Studienleiter Grischa Brower-Rabinowitsch. Bei der regulären Studie im Sommer 2024 lag diese Furcht noch bei 48 Prozent. “Einen derartigen Anstieg einer Angst – um 26 Prozentpunkte – beobachten wir in der Langzeitstudie äußerst selten”, hieß es. “Das Ergebnis sollte hellhörig machen.”
Die Messer-Attacke von Aschaffenburg, als ein ausreisepflichtiger Afghane zwei Menschen tötete und mehrere schwer verletzte, habe zu dieser Entwicklung beigetragen. “Und zwar mit der Art und Weise, wie viele politische Akteure auf den Anschlag reagiert haben”, erklärte Isabelle Borucki von der Philipps-Universität Marburg, die die Studie als Beraterin begleitet. “Die teilweise undifferenzierte Debatte um Migration wurde in einer Weise geführt, die an historische Muster erinnert – insbesondere an die Weimarer Republik, als Sündenböcke konstruiert wurden.” Migration werde als das zentrale politische Problem gedeutet. “Damit werden Feindbilder aufgebaut, die zu einer weiteren Spaltung führen können.” Die Polarisierung, aber auch der raue Ton in der Politik verstärkten die Spaltungsangst.
Zur Furcht vor gesellschaftlicher Spaltung tragen aber noch weitere Faktoren bei. “Dazu zählt das Gefühl abgehängt zu sein, nicht gehört und von der Politik abgewertet zu werden”, fügte Borucki hinzu.
DEUTSCHE SORGEN SICH UM HOHE PREISE UND REZESSION
“Düster ist auch der Blick der Deutschen auf die finanzielle Situation”, betonte Studienleiter Brower-Rabinowitsch. “70 Prozent der Befragten haben Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten.” Bei der regulären Umfrage im Sommer waren es noch 57 Prozent. “Die Inflation mag gesunken sein, aber die absoluten Preise sind hoch geblieben”, erläuterte Politikwissenschaftlerin Borucki. Viele Menschen hätten das Gefühl, dass sich ihr Lebensstandard real verschlechtert habe. “Besonders spürbar ist dies bei Mieten, Energie- und Lebensmittelpreisen.”
Rund 68 Prozent der Befragten haben zudem Angst vor einem wirtschaftlichen Einbruch. Zuletzt waren dies nur 48 Prozent. Die deutsche Wirtschaft ist 2023 und 2024 jeweils geschrumpft und dürfte in diesem Jahr allenfalls leicht wachsen, Pessimisten rechnen sogar mit einem dritten Rezessions-Jahr in Folge. So etwas hat es seit Gründung der Bundesrepublik noch nie gegeben.
Gut sechs von zehn Menschen in Deutschland halten Vertreter der Politik – Regierung und Opposition – von ihren Aufgaben für überfordert. “Das Vertrauen der Deutschen in die Politiker und Politikerinnen ist erschreckend gering”, sagte Brower-Rabinowitsch. “Politik und Bevölkerung entfremden sich immer mehr”, ergänzte Borucki. “Viele Menschen fühlen sich nicht mehr vertreten, politische Debatten erscheinen oft realitätsfern und von parteipolitischem Kalkül geprägt.”
So fallen auch die Schulnoten für die Politik schlecht aus. Mehr als die Hälfte der Befragten (55 Prozent) vergeben die Note fünf oder sechs. “Das ist alarmierend”, warnte Borucki. Sollte sich der Vertrauensverlust vertiefen, könnten sich rechtsextreme Parteien weiter etablieren. “Die Wahl 2029 würde damit zur Bewährungsprobe für die Demokratie.” Es liege jetzt an den demokratischen Parteien, das Vertrauen in Demokratie und Zusammenhalt zurückzugewinnen.
(Bericht von Klaus Lauer; redigiert von Kerstin Dörr – Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)