Berlin (Reuters) – Union und SPD können nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis der Bundestagswahl zusammen regieren.
CDU/CSU und ihr Kanzlerkandidat Friedrich Merz kommen nach Auszählung aller Wahlkreise mit klaren Zuwächsen auf zusammen 28,5 Prozent, wie aus dem am Montag auf der Internetseite der Bundeswahlleiterin veröffentlichten vorläufigen amtlichen Ergebnis hervorgeht. Die SPD bricht auf 16,4 Prozent und damit auf ihr schlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik ein. Die in Teilen rechtsextreme AfD erzielt 20,8 Prozent und wird mit diesem Rekordergebnis zweitstärkste Fraktion. In allen ostdeutschen Bundesländern kam die AfD als stärkste Kraft durchs Ziel. Die FDP und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) gehören dem neuen Bundestag nicht mehr an.
“Wir werden sicherlich intensive Verhandlungen haben, und danach werden wir sehen, ob es ausreichend Schnittmengen gibt”, sagte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch dem Sender Phoenix am Montag mit Blick auf anstehende Gespräche mit der Union. Mehrere CDU-Politiker erwarten aber, dass die SPD auf jeden Fall in eine Regierung mit der Union eintreten wird. “Die SPD ist eine alte Partei, die in der Vergangenheit große Verantwortung für unser Land übernommen hat”, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, vor der Sitzung des CDU-Präsidiums. “Es geht jetzt darum, Verantwortung für unser Land zu übernehmen.”
Für die SPD ist das Ergebnis nicht nur ein historisches Tief in der Bundesrepublik. Erstmals wurde mit Olaf Scholz ein SPD-Kanzler nach nur einer Amtszeit abgewählt. Scholz hatte am Sonntagabend bereits angekündigt, bis zur Wahl eines neuen Kanzlers im Amt bleiben zu wollen. An Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung wolle er aber nicht teilnehmen. SPD-Co-Chef Lars Klingbeil dürfte der neue starke Mann der Sozialdemokraten werden. Am Sonntagabend kündigte Klingbeil an, neben dem Parteivorsitz auch den Vorsitz der Bundestagsfraktion anzustreben.
Neuer Bundeskanzler dürfte aller Voraussicht nach CDU-Chef Merz werden. Die Union wurde bei der Bundestagswahl am Sonntag deutlich stärkste Partei, bekam allerdings weniger Stimmen, als in vielen Umfragen erwartet wurde und sie selbst erhofft hatte. “Jetzt werden wir miteinander reden”, sagte Merz mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen. Dem Ergebnis nach Auszählung aller Wahlkreise zufolge dürfte es für ein Zweier-Bündnis aus Union und SPD reichen. Merz rechnet mit einer schwierigen Regierungsbildung, die er aber bis Ostern abgeschlossen haben will. Angesichts der Wirtschaftskrise forderten Vertreter der Wirtschaft Tempo bei den Gesprächen und schnelle Reformen.
Merz will übernächste Woche mit Sondierungsgesprächen beginnen. “Spätestens nach der Hamburger Bürgerschaftswahl ist die Zeit gekommen, intensiv miteinander zu sprechen. Ich habe den Wunsch, dass wir spätestens Ostern mit einer Regierungsbildung fertig sind”, sagte der 69-Jährige dem TV-Sender Phoenix.
MERZ: EUROPA MUSS UNABHÄNGIGER VON USA WERDEN
Die Grünen rutschten auf 11,6 Prozent ab, verloren von den ehemaligen Ampel-Parteien aber am wenigsten. Die Linke legte deutlich zu und erreichte 8,8 Prozent. Ganz knapp verpasste das BSW mit 4,972 Prozent den Einzug in den Bundestag. Die FDP scheiterte zum zweiten Mal nach 2013 mit 4,3 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Die Wahlbeteiligung lag laut Bundeswahlleiterin bei 82,5 Prozent und damit deutlich höher als 2021 mit 76,4 Prozent. Es war die höchste Wahlbeteiligung seit der Wiedervereinigung 1990. Der nächste Bundestag wird 630 Abgeordnete haben. Für eine Mehrheit sind entsprechend 316 Stimmen nötig. Die konstituierende Sitzung ist binnen eines Monats zu erwarten.
Merz ist zwar seit Jahrzehnten in der Politik tätig, hatte aber noch nie ein Regierungsamt inne. Seit 2022 ist der Sauerländer CDU-Chef und Oppositionsführer, lange war er parteiintern Rivale von Ex-Kanzlerin Angela Merkel. Einer Zusammenarbeit mit der AfD erteilte Merz erneut eine klare Absage und warf der Partei eine zu große Russlandnähe vor. Deutlich machte Merz zugleich, dass Europa unabhängiger von den USA werden müsse. Der US-Regierung von Präsident Donald Trump sei das Schicksal Europas “weitgehend gleichgültig”. Die Einmischung aus Washington zugunsten der AfD nannte Merz unverschämt.
AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel sieht die AfD als Volkspartei nun etabliert. Am Montag sprach sie von einem historischen Erfolg ihrer Partei. Dabei verwies Weidel auf das starke Abschneiden unter den Jungwählern und betonte: “Das ist ein starker Indikator, dass wir die Partei der Zukunft sind.” Die AfD habe beste Chancen, in den nächsten Jahren die Union zu überholen. CDU/CSU warf sie erneut eine Blockade-Haltung wegen der Absage an eine Zusammenarbeit vor. “Die Brandmauer muss weg”, forderte Weidel. Die Blockade stehe dem Wählerwillen entgegen.
LINDNER VOR RÜCKZUG AUS DER POLITIK
FDP-Chef Christian Lindner räumte die Niederlage seiner Partei ein und kündigte an, sich aus der Politik zurückzuziehen. Er werde als Parteichef nicht mehr antreten. Lindner hatte nach zwei Rezessionsjahren in Folge für einen radikalen Wechsel in der Wirtschaftspolitik geworben.
Stimmen aus der Wirtschaft plädierten für Tempo in den anstehenden Koalitionsverhandlungen. “Oberste Priorität sollte eine rasche Regierungsbildung haben, um eine Führungsrolle in Europa übernehmen zu können”, sagte die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer zu Reuters. Auch BDI-Chef Peter Leibinger forderte Tempo: “Die deutsche Wirtschaft braucht sehr schnell eine handlungsfähige neue Bundesregierung mit stabiler Mehrheit in der demokratischen Mitte.” Ähnlich äußerte sich IG-Metall-Chefin Christiane Benner: “Wir haben keine Zeit mehr. Die Industrie und die Beschäftigten können nicht Monate auf klare Perspektiven warten.”
(Bericht von Christian Krämer, Andreas Rinke, Alexander Ratz, Holger Hansen, Alexander Hübner, Rene Wagner; Redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich an berlin.newsroom@tr.com)