(Neue Einzelheiten)
– von Mark Trevelyan
London (Reuters) – Präsident Wladimir Putin hat das russische Vorgehen in der Ukraine mit einem drohenden Angriff der Nato auf Russland begründet.
Bei der Parade zum “Tag des Sieges” über das nationalsozialistische Deutschland am 9. Mai 1945 rechtfertigte Putin den Angriffskrieg am Montag damit, dass sich Russland habe wehren müssen. Der Westen bereite “die Invasion unseres Landes, einschließlich der Krim, vor”. Der russische Präsident sprach erneut von einer “Spezialoperation” im Nachbarland. Der Westen habe über Jahre nicht auf die russischen Sicherheitsinteressen reagiert. Die Nato bilde an den Grenzen zu Russland eine Gefahr.
Wegen des Krieges in der Ukraine nahmen an der Militärparade diesmal keine ausländischen Regierungschefs teil. Russische Truppen waren am 24. Februar in die ehemalige Sowjetrepublik einmarschiert. Seitdem tobt dort ein Krieg, in dem bereits Zehntausende Menschen umgekommen sind. Die Rede Putins war mit Spannung erwartet worden. So war spekuliert worden, dass Putin eine Generalmobilmachung oder den Einsatz neuer Waffensysteme ankündigen könnte. Dies tat er in seiner elfminütigen Rede nicht, auch erwähnte er die Ukraine nicht beim Namen und äußerte sich auch nicht dazu, wie lange die Kämpfe noch anhalten werden.
Die Nachrichtenagentur Tass zitierte Putin später allerdings mit der Aussage, er hege keinen Zweifel daran, dass der von ihm als “militärischer Sondereinsatz” bezeichnete Krieg in der Ukraine sein Ergebnis erreichen werde. “Alle Pläne werden erfüllt. Ein Ergebnis wird erreicht – daran besteht kein Zweifel”, sagte Putin demnach. Bislang hat Russland unterschiedliche Kriegsziele genannt. Zunächst hatte Moskau als Ziel die Entmilitarisierung und “Entnazifizierung” der Ukraine genannt. Dann erklärte das Verteidigungsministerium die Eroberung des Donbass zum Hauptziel. Später gab es Berichte, dass Russland versuchen könnte, die Ukraine völlig vom Zugang zum Schwarzen Meer abzuschneiden.
Der Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, Mychailo Podoljak, wies die Vorwürfe Russlands zurück. “Die Nato-Staaten wollten Russland nicht angreifen. Die Ukraine hat keinen Angriff auf die Krim geplant”, erklärte Podoljak. Von der Nato lag zunächst keine Reaktion vor. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace forderte Putin auf, sich mit der Tatsache abzufinden, dass Russland langfristig verloren habe. Es sei sehr gut möglich, dass die Ukraine die russische Armee so weit niederringen werde, dass sie sich entweder auf Gebiete von vor Februar zurückziehen oder sich wirklich neu formieren müsse, sagte Wallace im National Army Museum in London.
“SOLANGE WIR LEBEN”
Als besonders symbolträchtig gilt die von russischen Bombardements fast völlig zerstörte südostukrainische Hafenstadt Mariupol mit einst 400.000 Einwohnern. Dort kämpfen neben ukrainischen Soldaten auch Angehörige der Asow-Miliz gegen die russischen Truppen. Etliche Soldaten harren dort immer noch im umkämpften Stahlwerk Asowstal aus. Der stellvertretende Kommandeur des Asow-Regiments bat die internationale Gemeinschaft um Hilfe bei der Evakuierung verwundeter Soldaten. “Wir werden weiter kämpfen, solange wir leben, um die russischen Besatzer zurückzuschlagen”, sagte Hauptmann Swiatoslaw Palamar auf einer Online-Pressekonferenz.
Die ukrainischen Behörden warnten vor weiteren heftigen Angriffen der russischen Seite am symbolträchtigen 9. Mai. “Heute wissen wir nicht, was wir vom Feind zu erwarten haben, was für schreckliche Dinge er tun könnte, also gehen Sie bitte so wenig wie möglich auf die Straße und bleiben Sie in den Schutzräumen”, sagte der Gouverneur der ostukrainischen Region Luhansk, Serhij Gaidai. Der ukrainische Präsident Selenskyj teilte mit, bei dem russischen Bombenangriff auf eine Schule im ostukrainischen Bilohoriwka am Samstag seien Dutzende Menschen getötet worden. Etwa 90 Menschen hätten sich in die Schule geflüchtet, sagte Gaidai. Aus Moskau gab es keine Reaktion.
Wie viele Zivilisten, ukrainische und russische Soldaten in dem Krieg bisher gestorben sind, ist unklar. Putin kündigte in seiner Rede weitere Hilfen für die Kinder und Familien gefallener Soldaten an. Erneut stellte er den russischen Einmarsch in einen direkten Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus. Den aufmarschierten Soldaten rief er zu, sie kämpften jetzt für die Sicherheit Russlands. Ausdrücklich erwähnte er dabei Einheiten, die von der Donbass-Front im Osten der Ukraine kämen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Putin am Sonntag in einer Ansprache zum Jahrestag des Kriegsendes vorgeworfen, die Geschichte zu verfälschen. “Nun will Russlands Präsident Putin die Ukraine unterwerfen, ihre Kultur und ihre Identität vernichten.” Dies werde man nicht zulassen. “Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen”, sagte der Kanzler.