Klingbeil – Deutschland muss als Führungsmacht auftreten

Berlin (Reuters) – Angesichts der Veränderungen in der Welt sieht SPD-Chef Lars Klingbeil eine neue Vorreiterrolle für Deutschland.

“Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben”, sagte Klingbeil am Dienstag in einer außenpolitischen Grundsatzrede. Damit sei aber ausdrücklich nicht gemeint, dass Deutschland “breitbeinig oder rabiat” auftrete. Eine neue Rolle als Führungsmacht werde Deutschland harte finanzielle und politische Entscheidungen abverlangen. Als Führungsmacht müsse Deutschland auch ein souveränes Europa massiv vorantreiben.

“Ich finde, wir brauchen eine völlig andere sicherheitspolitische Debatte in Deutschland”, sagte Klingbeil. So müsse die Bundeswehr bei Debatten über Frieden und Sicherheit “selbstverständlich” mitgedacht werden. “Nicht das Reden über Krieg führt zum Krieg. Das Verschließen der Augen vor der Realität führt zum Krieg.” Pazifistischen Überlegungen erteilte er eine Absage., Friedenspolitik bedeute für ihn, “auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen”. Das sehe auch die Charta der Vereinten Nationen vor. Der SPD-Chef verwies dabei auf Russlands Angriff auf die Ukraine. Er erinnerte daran, dass auch zu Zeiten der Ostpolitik von Willy Brandt und dann Helmut Schmidt der deutsche Verteidigungsetat drei Prozent der Wirtschaftsleistung betragen habe.

Deutschland habe sich in den vergangenen Jahrzehnten ein hohes Maß an Vertrauen als Unterstützer von multilateraler Sicherheit, Frieden und Wohlstand erarbeitet. Deshalb seien die Erwartungen gewachsen, die nun erfüllt werden müssten. Zu einer “klugen Führungskultur” gehöre, andere zusammenzuführen und auch die von Außenministerin Annalena Baerbock vertretene Idee einer feministischen Außenpolitik.

Für Klingbeil, der den Kanzler-Begriff der “Zeitenwende” nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verwandte, wird die Welt künftig nicht mehr in unterschiedlichen Polen, sondern in Zentren organisiert, die auf verschiedene Arten Macht ausüben. “Nicht mehr Gefolgschaft, Druck und Unterdrückung sind entscheidend für die Zuordnung, sondern Überzeugungen und Interessen.” Die Machtzentren müssten also dafür sorgen, dass sie attraktiv blieben, um “Bindungen, Abhängigkeiten und Kooperationen” zu schaffen.

Der SPD-Chef räumte Fehler im Umgang mit Partnern in Ost- und Mitteleuropa ein. “Mir ist es deswegen persönlich wichtig, dass wir den Dialog mit ihnen intensivieren und Europa gemeinsam voranbringen.” Er werde kommende Woche nach Litauen und Polen reisen. “Wenn wir aus den baltischen Staaten oder Polen hören, dass sie Angst davor haben, die nächsten Ziele Russlands zu sein, dann müssen wir das ernst nehmen.” Man habe auf Warnungen aus Osteuropa vor Russland zu wenig gehört. Zugleich distanzierte sich Klingbeil aber nicht von der Ostpolitik, die die deutsche Einheit erst möglich gemacht habe. “Ich bin stolz auf die Ostpolitik von Willy Brandt”, sagte er.

Die europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik müsse vorangetrieben werden, sagte Klingbeil. “27 Länder, die ihr eigenes Beschaffungswesen unterhalten, ihre eigenen Rüstungskonzerne haben, die einzeln mit diesen Rüstungskonzernen verhandeln. Ich kann niemandem mehr erklären, warum wir das nicht endlich europäisch bündeln.”

(Bericht von Andreas Rinke; redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

tagreuters.com2022binary_LYNXMPEI5K0EK-VIEWIMAGE