Stimmung in Chefetagen immer trüber – “Wirtschaft steht vor Rezession”

– von Reinhard Becker und Rene Wagner

Berlin (Reuters) – Nach einem Mini-Wachstum im Frühjahr stehen die Zeichen in der deutschen Wirtschaft auf Rezession.

Als Alarmsignal gilt, dass sich die Laune in den Chefetagen im August bereits zum dritten Mal in Folge eingetrübt hat. Die hohe Inflation, die schwelende Gaskrise im Zuge des Ukraine-Krieges und die noch immer nicht ausgestandenen Lieferkettenprobleme lasten auf der Stimmung – abzulesen am Ifo-Geschäftsklimaindex, der im August um 0,2 auf 88,5 Punkte sank. Dies ist zugleich der tiefste Stand seit Juni 2020, wie das Münchner Ifo-Institut am Donnerstag mitteilte.

“Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft ist schlecht”, konstatierte dessen Präsident Clemens Fuest. Das Ifo geht davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im dritten Quartal um etwa ein halbes Prozent schrumpfen wird. Im Frühjahr hatte sich laut revidierten Zahlen des Statistischen Bundesamtes noch ein kleines Wachstum von 0,1 Prozent eingestellt. Zunächst war von einer Stagnation die Rede gewesen. Anfang des Jahres hatte sich ein Plus beim BIP von 0,8 Prozent ergeben. Mit dem kleinen Wachstum im Frühjahr hat die Wirtschaft hierzulande nun zumindest wieder das Niveau von vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie Ende 2019 erreicht.

Doch der Krieg vor den Toren der EU und die damit verbundene Energiekrise drohen den Konjunkturmotor abzuwürgen. “Die deutsche Wirtschaft steht wohl vor einer Rezession”, meint der Chefvolkswirt der DZ Bank, Michael Holstein. Das Ifo geht davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal um etwa ein halbes Prozent schrumpfen wird. Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer erwartet, dass die Schwächephase der Wirtschaft länger andauern wird: “Verbraucher und Unternehmen leiden unter der Gaskrise, zumal die Konsumenten ihre Corona-Ersparnisse offenbar schon verbraucht haben. Wir erwarten für das zweite Halbjahr und das erste Quartal nächsten Jahres mehr denn je eine Rezession.”

Wegen beständig steigender Gaspreise, Materialmangels und niedriger Flusspegel dürften es Unternehmer weiter schwer haben, sagt auch Chefökonom Alexander Krüger von der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank voraus. “Ungemach droht vor allem im Einzelhandel. Das Schwerwiegende ist, dass der dunkle Tunnel immer länger wird.”

IN GASKRISE DROHEN FABRIKSCHLIESSUNGEN

Das Risiko von Produktionsstopps durch staatlich verordnete Rationierungen sei zwar gesunken, meint Jörg Zeuner, Chefvolkswirt bei Union Investment. Deutschland könne dank der gut gefüllten Gasspeicher ohne große Engpässe durch einen Winter mit durchschnittlichen Temperaturen kommen. “Aber die vollen Speicher sind teuer erkauft. Europa muss weiterhin auf dem Weltmarkt zusätzliches Gas einkaufen, wodurch die Preise noch lange hoch bleiben dürften.” Als Folge nehme das Risiko zu, dass Fabriken dichtmachen müssten.

Diese Sorge treibt auch den Chef des Chemiekonzerns Lanxess, Matthias Zachert, um. “Bleiben die deutschen Energiepreise auf dem derzeitigen Niveau, dann werden wir erleben, dass reihenweise Betriebe in Schlüsselindustrien schließen”, warnte er im “Handelsblatt”. Die deutschen Exporteure bleiben laut dem DIHK auf Milliardenkosten durch stark gestiegene Import- und Erzeugerpreise sitzen. Die daraus resultierende Belastung für die Außenwirtschaft beziffert der Deutsche Industrie- und Handelskammertag allein für das erste halbe Jahr auf 70 Milliarden Euro.

SPIELRAUM FÜR ENTLASTUNGEN?

Stark steigende Steuereinnahmen und geringere Corona-Subventionen haben zugleich das deutsche Staatsdefizit in der ersten Jahreshälfte trotz der wirtschaftlichen Belastungen durch den russischen Krieg gegen die Ukraine stark sinken lassen. Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherung gaben bis Ende Juni zusammen 13,0 Milliarden Euro mehr aus als sie einnahmen. Das entspricht 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Zum Vergleich: Im ersten Halbjahr 2021 hatte der Fehlbetrag noch 75,6 Milliarden Euro betragen, was einer Defizitquote von 4,3 Prozent entsprach.

“Die Verbesserung der Staatsfinanzen zeigt, dass der Staat aus ökonomischer Sicht durchaus Spielräume für Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger angesichts hoher Energiepreise hätte”, sagte der wissenschaftliche Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Sebastian Dullien. Angesichts der drohenden Rezession sollte die Bundesregierung die für dieses Jahr noch geltende Notfall-Situation bei der Schuldenbremse nutzen. Zum Jahresende könnten etwa kräftige, kreditfinanzierte Entlastungen für die Privathaushalte verabschiedet werden – etwa in Form einer neuen Energiepauschale.

(Mitarbeit: Klaus Lauer, redigiert von Kerstin Dörr. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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