– von Jonathan Landay
London/Saporischschja (Reuters) – Angesichts russischer Vorbereitungen für eine Annexion von Teilen der Ukraine setzt Augenzeugen zufolge eine Fluchtbewegung aus den betroffenen Gebieten ein.
In der ukrainisch kontrollierten Stadt Saporischschja gab es demnach am Mittwoch insbesondere die Furcht, dass dort dann sofort mit der Einberufung von Männern in die russische Armee begonnen werde. “Es gibt Orte, die komplett verlassen sind”, sagte ein Mann, der nach eigenen Angaben mit seiner Familie aus Cherson über den letzten russischen Checkpoint herausgelangt war. “Ganze Dörfer brechen auf.”
Ein weiterer Familienvater aus Cherson sprach von einer Autoschlange, deren Ende nicht mehr zu sehen gewesen sei. Wegen des Referendums zögen 70 Prozent der Leute weg, sagte er. Eine 48-jährige Verkäuferin berichtete von einer Anweisung an die Schulen in ihrem Ort, ab kommenden Monat den Unterricht auf Russisch abzuhalten. Sie habe nicht gewollt, dass ihr 13-jähriger Sohn an seine Schule zurückkehrt. “Sie können sich vorstellen, wie ich mich jetzt fühle”, sagte sie. “Sobald wir den Kontrollpunkt passiert haben, war mein erstes Foto eins von der ukrainischen Fahne. Ich bin glücklich.” Eine Bestätigung der Angaben aus den besetzten Gebieten war nicht möglich.
VIDEOBANNER AUF DEM ROTEN PLATZ
In vier Regionen der Ukraine – neben Cherson und Saporischschja auch Luhansk und Donezk – hatten die von Russland eingesetzten Behörden Referenden über einen Anschluss an die Russische Föderation abgehalten. Den in der Nacht auf Mittwoch veröffentlicht Endergebnissen zufolge stimmten zwischen 87 und gut 99 Prozent für einen Anschluss. Im Tagesverlauf gaben die von Russland ernannten Verwalter der vier Regionen dann an, sie hätten Aufnahmeanträge an Präsident Wladimir Putin persönlich gerichtet. Das Außenministerium in Moskau erklärte, es würden bald Schritte unternommen, um die Bestrebungen der vier Regionen zu erfüllen. Auf dem Roten Platz in Moskau stand auf riesigen Videoschirmen: “Donezk, Luhansk, Saporischschja, Cherson – Russland!”
Die Gebiete entsprechen zusammen grob der Fläche Portugals und würden 15 Prozent des ukrainischen Staatsgebietes ausmachen. In einer Erklärung des Außenministeriums in Kiew hieß es, die Referenden seien null und nichtig. Man werde weiter für eine Befreiung des Territoriums kämpfen. “Dass die Menschen in diesen Gebieten mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurden, einige Papiere auszufüllen, ist ein weiteres russisches Verbrechen im Rahmen der Aggression gegen die Ukraine.”
Die Europäische Union und die USA brachten neue Sanktionen gegen Russland ins Spiel. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte: “Wir akzeptieren keine Scheinabstimmungen oder jegliche Annexionen in der Ukraine und sind entschlossen, den Kreml für diese weitere Eskalation bezahlen zu lassen.”
RUSSLAND: MÜSSEN GANZ DONEZK KONTROLLIEREN
Früheren Angaben des britischen Geheimdienstes zufolge dürfte Putin bei vor dem Parlament am Freitag die Aufnahme der Gebiete ankündigen. Dann könnte seine Regierung die ukrainische Gegenoffensive als einen Angriff auf Russland darstellen. Vergangene Woche erklärte Putin, er sei bereit, die “territoriale Integrität” seines Landes mit Atomwaffen zu verteidigen. Russland kontrolliert nicht die gesamten beanspruchten Gebiete. So sind etwa 40 Prozent von Donezk unter ukrainischer Kontrolle, die Provinz ist heftig umkämpft. Der russische Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow erklärte am Mittwoch, der Einsatz müsse weitergehen, bis Donezk komplett eingenommen worden sei.
Russland beschreibt den Einmarsch in die Ukraine als militärischen Sondereinsatz unter anderem mit dem Ziel, die russischsprachige Bevölkerung zu schützen. Der Westen und die Ukraine sprechen von einem Angriffskrieg. Zuletzt haben die ukrainische Streitkräfte Teile der besetzten Gebiete zurückerobert. Die Angaben der Kriegsparteien können von unabhängiger Seite nicht überprüft werden.
(Bericht unter anderem von Jonathan Landay; Geschrieben von Scot W. Stevenson; Redigiert von Elke Ahlswede; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)