Regierung spannt erneut Schutzschirm – 200 Mrd gegen hohe Energiepreise

Berlin (Reuters) – Die Bundesregierung plant zur Abfederung der sprunghaft gestiegenen Energiekosten einen weiteren Abwehrschirm für Verbraucher und Unternehmen

Das Volumen bezifferte die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP am Donnerstag auf bis zu 200 Milliarden Euro. Konkret geplant sind neben einer Strompreisbremse nun auch eine Gaspreisbremse. “Man kann sagen: Das ist hier ein Doppel-Wumms”, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin. Er hatte in der Corona-Pandemie 2020 das damalige Konjunkturpaket der großen Koalition bereits als “Wumms” bezeichnet. Nun stünden zusammen mit den drei Entlastungspaketen aus diesem Jahr insgesamt rund 300 Milliarden Euro zur Verfügung.

“Die Preise müssen runter”, sagte SPD-Politiker Scholz, der wegen einer Corona-Infektion in Quarantäne ist und virtuell zu der Pressekonferenz mit Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner zugeschaltet wurde. Es werde auf absehbare Zeit keine russischen Gaslieferungen mehr geben. Russlands nutze Energie als Waffe.

Deswegen soll der Corona-Krisenfonds WSF, der unter anderem die Lufthansa gerettet hatte und eigentlich schon eingestellt wurde, wieder aktiviert werden. Er soll nun mit neuen Kreditermächtigungen in Höhe von 200 Milliarden Euro ausgestattet werden. Eigentlich war vorgesehen, dass neue Anträge beim WSF nicht mehr gestellt werden können. Der Wirtschaftsstabilisierungsfonds hält noch einige Beteiligungen, die in den nächsten Jahren abgebaut werden dürften.

Mit dem neuen Abwehrschirm sollen noch größere Krisen abgewendet werden. “Wir sind immer noch in einer kritischen Situation”, sagte Grünen-Politiker Habeck mit Blick auf die Versorgungssicherheit. Es müsse aber mehr Energie eingespart werden, auch von den privaten Haushalten. Dies hatte zuvor bereits der Chef der Bundesnetzagentur angemahnt: “Der Gasverbrauch von Haushalten und Gewerbe in der letzten Woche lag deutlich über dem durchschnittlichen Verbrauch der Vorjahre”, kritisierte Klaus Müller. Die Zahlen seien ernüchternd. Ohne erhebliche Einsparungen werde es schwer, eine Gasmangellage im Winter zu vermeiden. Diese könnte staatliche Rationierungen nach sich ziehen.

Im Fall einer Gasmangellage könnte Deutschland nach Ansicht der führenden Forschungsinstitute 2023 auch in eine beispiellose Rezession rutschen. Dann dürfte die Wirtschaft um 7,9 Prozent schrumpfen, erklärten die Ökonomen in ihrem Herbstgutachten für die Bundesregierung. Zu diesem Risikoszenario komme es bei einem kalten Winter und fehlenden Einsparungen beim Energieverbrauch. Die Fachleute gehen in ihrer Basisrechnung aber davon aus, dass eine Notlage wohl verhindert werden kann. Dieses Jahr erwarten sie 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum und 2023 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,4 Prozent. Die Forscher empfehlen, die hohen Energiepreise nicht zu stark zu senken und stattdessen lieber gezielt ärmere Haushalte zu unterstützen.

GASUMLAGE WIRD ZWEI TAGE VOR DEM START WIEDER EINKASSIERT

Die eigentlich ab Anfang Oktober greifende und zuletzt immer stärker kritisierte Gasumlage wird in letzter Minute wieder abgeschafft. Sie werde per Verordnung zurückgenommen, kündigte Habeck an. “Die Gasumlage wird nicht mehr benötigt.” Es gebe über den WSF jetzt eine bessere Möglichkeit, um Unternehmen mit Kapital auszustatten.

Das jetzt beschlossene Programm soll Habeck zufolge eine Laufzeit bis Ende des übernächsten Winters haben, also bis März oder April 2024. Die eingesetzte Expertenkommission zum Umgang mit den hohen Energiekosten solle zeitnah einen Vorschlag für eine Gaspreisbremse machen. Dieser werde dann beraten und umgesetzt.

“Wir befinden uns in einem Energiekrieg um Wohlstand und Freiheit”, sagte Finanzminister Lindner. Die Lage habe sich mit den Lecks an den Nord-Stream-Pipelines noch einmal verschärft. Die 200 Milliarden Euro könnten bis 2024 ausschließlich zweckgebunden verwendet werden – für die Preisbremsen, Hilfen für Unternehmen und insbesondere die Gas-Importeure. Das Geld stehe nicht für weitere Forderungen aus den Bundesländern zur Verfügung, so der FDP-Chef. Es gehe darum, einen Dammbruch bei den Ausgaben zu verhindern. Die Schuldenbremse solle nächstes Jahr eingehalten werden. Dieses Jahr ist sie wegen der Pandemie und des Krieges in der Ukraine aber noch ausgesetzt. Das soll nun noch einmal genutzt werden, um den WSF zu füllen.

INFLATION SO HOCH WIE SEIT 1950ER JAHREN NICHT MEHR

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine Ende Februar sind die Energiepreise massiv gestiegen. Die gesamte Inflation lag im September bei 10,0 Prozent und damit auf den höchsten Niveau seit Anfang der 1950er Jahre. Das zehrt an der Kaufkraft der Verbraucher, viele Firmen stehen wegen hoher Kosten mit dem Rücken zur Wand.

Das neue Paket der Regierung bezeichnete der Chemieverband VCI als Befreiungsschlag, mit dem geklotzt statt gekleckert werde. “Jetzt brauchen wir Tempo bei den Details.” Der Verband der Familienunternehmer mahnte an, die Maßnahmen auch auf europäischer Ebene zu flankieren. Am Freitag ist ein weiteres Sondertreffen der EU-Energieminister geplant.

Bei der Gaspreisbremse ist offenbar geplant, die Kosten für ein Grundkontingent zu deckeln: “Daher werden die Preise – zumindest für einen Teil des Verbrauchs – auf ein Niveau gebracht, welches private Haushalte und Unternehmen vor Überforderung schützt”, heißt es im Ampel-Papier zu den neuen Maßnahmen. Die Absenkung der Mehrwertsteuer auf Gas von 19 auf sieben Prozent für 18 Monate, die der Bundestag am Freitag beschließen soll, bleibt bestehen. Der ermäßigte Satz gilt auch für Fernwärme.

(Bericht von Christian Krämer, Andreas Rinke, Alexander Ratz, Holger Hansen und Klaus Lauer, redigiert von Hans Seidenstücker. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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