Russlands bekannteste Menschenrechtsgruppe Memorial wird verboten

Moskau (Reuters) – Die vom obersten Gericht Russlands angeordnete Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial stößt auf scharfe Kritik im In- und Ausland.

“Dies ist ein schlechtes Signal, das zeigt, dass sich unsere Gesellschaft und unser Land in die falsche Richtung bewegen”, zitierte die Nachrichtenagentur Tass am Dienstag den Memorial-Vorstandsvorsitzenden Jan Ratschinski. Das Aus für die bekannteste Menschenrechtsgruppe des Landes erhöhe das Risiko einer “totalen Repression” in Russland, sagte Memorial-Anwältin Maria Eismont während der letzten Anhörung.

Die Vereinigung, die zu den ältesten Menschenrechtsgruppen des Landes zählt und sich auch mit der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen einen Namen gemacht hat, wird wegen angeblichen Verstoßes gegen das Gesetz über ausländische Agenten aufgelöst. Die Nachrichtenagentur Interfax zitierte einen Anwalt der Gruppe mit den Worten, sie werde sowohl in Russland als auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Rechtsmittel einlegen. Memorial hatte das Vorgehen der russischen Justiz bereits als politisch motiviert bezeichnet. Die Mitglieder hatten angekündigt, ihre Arbeit auch im Falle eines Verbots fortsetzen zu wollen.

Auch in Deutschland rief der Gerichtsentscheid vom Dienstag Kritik hervor. Er sei “mehr als unverständlich und widerspricht internationalen Verpflichtungen zum Schutz grundlegender Bürgerrechte, die auch Russland eingegangen ist”, erklärte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes. “Die Entscheidung bereitet uns nicht zuletzt große Sorge auch deshalb, weil sie den Opfern von Unterdrückung und Repression die Stimme entzieht.” Die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, Renata Alt (FDP), erklärte: “Mit der Auslöschung der Erinnerungskultur verabschiedet sich das Land immer mehr von einer unabhängigen und kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.” Es müsse befürchtet werden, dass weitere Organisationen und Personen, die sich für Freiheit und Menschenrechte einsetzen, mundtot gemacht würden.

LANGE GESCHICHTE

Memorial wurde in der von Michail Gorbatschow eingeleiteten Ära der sowjetischen Liberalisierung in den 80er Jahren von prominenten Dissidenten gegründet. Unter ihnen war der Physiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Die Arbeit konzentrierte sich zunächst auf die Dokumentation der Verbrechen der Stalin-Ära. Während der beiden Tschetschenienkriege in den 1990er Jahren war sie die wichtigste russische Menschenrechtsorganisation. In jüngerer Zeit hat sie sich gegen die Unterdrückung von Kritikern unter Präsident Wladimir Putin gewandt.

Russische Behörden sind in diesem Jahr hart gegen Oppositionsbewegungen und Menschenrechtsgruppen vorgegangen. So wurde der prominente Kremlkritiker Alexej Nawalny inhaftiert. Die Regierung hat erklärt, lediglich Gesetze durchzusetzen, um Extremismus zu bekämpfen und das Land vor ausländischem Einfluss zu schützen.

Memorial wurde von Behörden 2015 auf eine Liste “ausländischer Agenten” gesetzt, was zahlreiche Einschränkungen ihrer Aktivitäten zur Folge hatte. Im vergangenen Monat beschuldigte die Staatsanwaltschaft das in Moskau ansässige Menschenrechtszentrum Memorial und seine Mutterorganisation Memorial International, dagegen verstoßen zu haben. Memorial International habe nicht alle ihre Veröffentlichungen, einschließlich der Beiträge in den sozialen Medien mit der gesetzlich vorgeschriebenen Bezeichnung gekennzeichnet. Sie warfen dem in Moskau ansässigen Zentrum außerdem vor, Terrorismus und Extremismus zu unterstützen.

Bei der abschließenden Anhörung am Dienstag sagte ein Staatsanwalt, Memorial habe großangelegte Medienkampagnen organisiert. Diese hätten darauf abgezielt, russische Behörden zu diskreditieren. Putin, ein ehemaliger Spion des sowjetischen Geheimdienstes KGB, sagte kürzlich, Memorial habe Organisationen verteidigt, die Russland als extremistisch und terroristisch ansehe und dass auf der Liste der Opfer der Repressionen aus der Sowjetzeit auch Nazi-Kollaborateure stünden.

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