Neuer Anlauf zur Evakuierung umkämpfter Städte in der Ukraine

– von Natalia Zinets und Pavel Polityuk

Kiew/Lwiw/Berlin (Reuters) – In der Ukraine ist ein neuer Versuch zur Evakuierung von Zivilisten aus von Russland belagerten Städten angelaufen.

Russland verkündete am Mittwoch eine neue Feuerpause. Die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk erklärte in einer Videobotschaft, Zivilisten sollten über sechs Fluchtkorridore aus umkämpften Städten gebracht werden. Die ukrainischen Streitkräfte hätten zugestimmt, den Beschuss in diesen Gebieten von neun Uhr morgens bis 21 Uhr abends Ortszeit (20 Uhr MEZ) einzustellen. Wereschtschuk forderte die russischen Streitkräfte auf, ihre Verpflichtung zur lokalen Waffenruhe etwa in der südostukrainischen Stadt Mariupol einzuhalten. Vor den Gesprächen der Außenminister Russlands und der Ukraine am Donnerstag deutete ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj an, dass das Land im Gegenzug gegen Sicherheitsgarantien auf einen Nato-Beitritt verzichten könnte.

In den vergangenen Tagen waren mehrfach Versuche gescheitert, Zivilisten die Flucht aus belagerten Städten zu ermöglichen. Beide Seiten gaben sich gegenseitig dafür die Schuld. Am Dienstag sollten Fluchtwege aus Kiew, Sumy, Charkiw, Mariupol und Tschernihiw geöffnet werden, doch nur aus Sumy konnten am Dienstag Zivilisten durch einen Fluchtkorridor ausreisen. Aus der nordostukrainischen Stadt wurden am Mittwoch weitere Evakuierungen auch mit Privatwagen gemeldet. Das Rote Kreuz bezeichnete die Lage in der von russischen Truppen vollständig eingeschlossenen und heftig bombardierten Hafenstadt Mariupol als “apokalyptisch”. Dort sollen die Menschen keinen Zugang mehr zu Wasser, Strom, Essen und Heizung haben.

Die russische Invasion in der Ukraine hat nach Angaben der UN innerhalb weniger Tage mehr als zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben. “Ich fürchte, das ist erst der Anfang”, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch im ZDF. Die EU-Staaten würden noch sehr viel mehr Menschen aufnehmen müssen, seien dazu aber auch bereit. China bot der Ukraine erstmals humanitäre Hilfe an, allerdings nur im Wert von umgerechnet 725.000 Euro. Am Dienstag hatten die Staats- und Regierungschefs von China, Deutschland und Frankreich auf eine diplomatische Lösung gedrungen.

Die russische Invasion ist der größte Angriff auf einen europäischen Staat seit dem Zweiten Weltkrieg. Russland bezeichnet sein Vorgehen in der Ukraine dagegen als “Sondereinsatz”, der nicht darauf abziele, Territorium zu besetzen, sondern die militärischen Kapazitäten des Nachbarn zu zerstören und als gefährlich eingestuften Nationalisten zu fassen. China als enger Verbündeter Russland hat die Invasion bisher nicht kritisiert.

SICHERHEITSGARANTIE GEGEN NEUTRALITÄT?

Die Außenminister Russlands und der Ukraine wollen sich nach türkischen Angaben am Donnerstag in Antalya treffen. Dies wäre das erste Treffen auf Regierungsebene seit Ausbruch der Kämpfe. Der Sicherheitsberater des ukrainischen Präsidenten, Ihor Zhovkva, brachte eine Neutralität seines Landes ins Spiel. “Wir erwarten Sicherheitsgarantien”, sagte er in der ARD am Dienstagabend und forderte ein Gipfeltreffen zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dabei könnte man dann diskutieren, wie eine mögliche Neutralität der Ukraine aussehen könnte, sagte er mit Blick auf russische Forderungen, dass die Ukraine nicht der Nato beitreten sollte. Zuvor müssten die russischen Truppen aber abziehen.

NEUE DROHUNGEN IN SANKTIONSDEBATTE

Nachdem die USA einen Ölimportstopp aus Russland verhängt haben und die EU weitere Sanktionen beschloss, drohte die russische Seite mit Gegenmaßnahmen. “Russlands Reaktion wird schnell, überlegt und empfindlich für diejenigen sein, die sie betrifft”, zitierte die russische Nachrichtenagentur RIA den Leiter der Abteilung für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Außenministerium, Dmitri Biritschewski. Es werde an Maßnahmen gearbeitet, die in alle Richtungen gingen.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen zeigte sich optimistisch, dass die EU ihre Energieabhängigkeit von Russland schneller reduzieren kann als gedacht. Die EU-Staaten hätten bereits so viel Flüssiggas (LNG) eingekauft, dass man in diesem Winter ohne russisches Gas auskommen könne, sagte sie im ZDF. Zugleich verteidigte die Kommissionspräsidentin, dass die EU anders als die USA keinen Ölimport-Stopp beschlossen hat und verwies auf die geringere Abhängigkeit der USA bei Öl. Es gehe darum, mit den Sanktionen vor allem Russland und nicht die westlichen Staaten zu treffen. Auch die Bundesregierung hatte am Dienstag mit Blick auf die größere Abhängigkeit von russischem Öl abgelehnt, sich dem US-Schritt anzuschließen.

Verwirrung gab es um das polnische Angebot, MIG-29-Kampfjets über einen Umweg an die Ukraine zu liefern. Die Lieferung von Kampfflugzeugen müsse über die Nato erfolgen, sagten hochrangige polnische Beamte am Mittwoch. Das US-Verteidigungsministerium hatte zuvor das polnische Angebot abgelehnt, die MIG-29-Jets zum US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz zu fliegen, um sie dann an Kiew zu liefern. US-Präsident Joe Biden war von amerikanischen Politikern aufgefordert worden, bei der Auslieferung des Flugzeuge zu helfen, die die Ukraine angefordert hat. Allerdings gibt es bei vielen Nato-Staaten, darunter Deutschland, Vorbehalte, dass die Nato damit eine rote Linie überschreiten und in den Krieg hineingezogen werden könnte.

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