– von Natalia Zinets und Sergiy Karazy
Lwiw/Borodjanka (Reuters) – Bei einem Raketenangriff auf einen Bahnhof in Kramatorsk in der Ostukraine sind nach Behördenangaben mindestens 39 Menschen getötet und 87 weitere verletzt worden.
Regionalgouverneur Pawlo Kyrylenkomachte für den Angriff am Freitag die russischen Streitkräfte verantwortlich. Russland wies das zurück. Kreml-Sprecher Dmitry Peskow sagte, für Freitag habe die russische Armee keinen Einsatzbefehl für Kramatorsk gehabt. Der Typ der eingeschlagenen Raketen werde vom ukrainischen Militär eingesetzt, erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau. Reuters konnte die Darstellungen zunächst nicht überprüfen.
Am Vormittag waren in dem Bahnhof zwei Raketen eingeschlagen, wie die ukrainische Eisenbahngesellschaft mitteilte. Zum dem Zeitpunkt warteten zahlreiche Flüchtlinge, um mit Evakuierungszügen in sicherere Regionen im Westen des Landes zu gelangen. Laut Kyrylenko hielten sich Tausende Menschen in dem Bahnhof auf. Er veröffentlichte ein Foto, auf dem mehrere auf dem Boden liegende Körper zu sehen waren, neben zahlreichen Koffern und Taschen. Ein anderes Bild zeigte Einsatzkräfte, die versuchten, einen Brand zu löschen. “Die russischen Faschisten wussten sehr genau, wohin sie zielten und was sie wollten: Panik und Angst säen, sie wollten so viele Zivilisten wie möglich treffen”, sagte Kyrylenko.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, es seien keine Regierungstruppen am Bahnhof gewesen. “Russische Truppen haben auf einen gewöhnlichen Bahnhof geschossen, auf normale Menschen, es waren keine Soldaten da.” Die Ukraine erwartet nach dem Abzug russischer Truppen aus dem Großraum Kiew eine Offensive im Osten des Landes und hat die dortige Bevölkerung aufgerufen, die Region zu verlassen. Die Regierung in Moskau hat angekündigt, den Donbass einnehmen zu wollen, der auch Luhansk und Donezk umfasst. Teile der Region werden seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert. Ein Separatisten-Führer von Donezk sagte laut Agentur Tass, der Raketenangriff auf den Bahnhof sei eine ukrainische “Provokation”.
“DEUTLICH FURCHTBARER”
Auch andernorts verlagerten sich die Kämpfe weiter in den Osten der Ukraine. Der Beschuss von Städten dort halte an, twitterte das britische Verteidigungsministerium auf Basis von Informationen des Militärgeheimdienstes. Die russischen Truppen rückten von der ostukrainischen Stadt Isjum, die unter ihrer Kontrolle sei, nach Süden vor. Nach Einschätzung des ukrainischen Militärs ist das nächste Hauptziel der russischen Truppen, die vollständige Einnahme der eingeschlossenen Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer im Südosten. Auch am Freitag sollte wieder versucht werden, Zivilisten aus Kampfgebieten über Fluchtkorridore zu evakuieren.
Unterdessen kehrten im Norden von Kiew nach dem Abzug der Russen immer mehr Menschen in ihre Heimat zurück und versuchten, den dortigen Horror zu verarbeiten. Selenskyj sagte, die Situation in Borodjanka nordwestlich von Kiew sei “deutlich furchtbarer” als das, was in Butscha geschehen sei. Von dort hatte es zuletzt Bilder von getöteten Zivilisten auf den Straßen gegeben. Die Ukraine macht Russland für die Taten verantwortlich, was Russland zurückweist.
In Borodjanka suchten Rettungseinheiten und zum Teil auch Familienangehörige in den Trümmern eines Wohnhochhauses nach Opfern. Anwohner Wadym Sagrebelnyj sagte Reuters, seine Mutter, sein Bruder, seine Schwägerin und deren Eltern sowie zahlreiche andere Menschen hätten im Keller des Hauses ausgeharrt, um Schutz vor den Angriffen zu suchen. Russland weist alle Vorwürfe von Gräueltaten seiner Truppen zurück.
VON DER LEYEN BETONT EU-WEG FÜR UKRAINE
Am Donnerstagabend hatte die russische Regierung erstmals schwere Verluste seit der am 24. Februar gestarteten Invasion ein. “Wir haben bedeutende Verluste bei den Truppen und das ist eine große Tragödie für uns”, sagte Präsidialamtssprecher Peskow. Bislang hatte die Regierung die Zahl der gefallenen Soldaten auf etwa tausend beziffert, die ukrainische Seite spricht von etwa 19.000 toten russischen Soldaten. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor mittlerweile sechs Wochen sind mehr als vier Millionen Ukrainer ins Ausland geflohen, Tausende wurden getötet oder verletzt. Ein Viertel der Ukrainer hat das Zuhause verloren, mehrere Städte sind zerstört.
Kreml-Sprecher Peskow sagte am Freitag, der Militäreinsatz könnte in absehbarer Zeit enden, da die Ziele erreicht worden seien und sowohl das russische Militär als auch die russischen Friedensvermittler ihre Arbeit getan hätten.
In Kiew trafen am Freitagmittag EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zu Gesprächen mit Präsident Selenskyj ein. Auf dem Weg in die ukrainische Hauptstadt sagte von der Leyen, sie werde Selenskyj die Botschaft überbringen, dass es für die Ukraine einen Weg in die Europäische Union geben werde. “Unser Ziel ist, dass die Ukraine ihre Bewerbung im Rat diesen Sommer einreicht.”