Putin empfängt Österreichs Kanzler am Montag in Moskau

Kiew (Reuters) – Als erster EU-Regierungschef seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine besucht Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau.

Das Treffen sei für Montag vereinbart, teilten Sprecher der Regierung in Wien und des Präsidialamts in Moskau am Sonntag mit. Am Samstag war Nehammer in Kiew mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zusammengetroffen. Österreich sei “militärisch neutral, hat aber eine klare Haltung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er muss aufhören”, erklärte Nehammer auf Twitter. “Es braucht humanitäre Korridore, einen Waffenstillstand & vollständige Aufklärung der Kriegsverbrechen.” Er habe mehrere Partner über seine Reise informiert, darunter EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz sowie Selenskyj.

Angesichts einer erwarteten russischen Offensive im Osten der Ukraine versuchten unterdessen die Behörden des Landes unter Hochdruck, weitere Menschen aus dem Gebiet in Sicherheit zu bringen. Neun Fluchtkorridore sollten dafür am Sonntag eröffnet werden, wie Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk mitteilte. Der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Gaidai, kündigte an, neun Züge zur Evakuierung von Städten und Dörfern bereitzustellen. Auch für Mariupol im Südosten sollte es einen Korridor zur Nutzung mit Privatfahrzeugen geben. “Das wird ein harter Kampf, wir glauben an diesen Kampf und unseren Sieg”, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Samstagabend.

Seit Tagen warnen die ukrainischen Behörden, dass Russland Truppen im Osten für einen größeren Angriff auf den Donbass zusammenzieht. Die Region ist nach dem Rückzug russischer Soldaten aus Gebieten bei der weiter westlich gelegenen Hauptstadt Kiew zum Mittelpunkt russischer Militäraktionen geworden. Seit Beginn der Invasion am 24. Februar ist es Russland nicht gelungen, eine größere Stadt einzunehmen. Der Donbass steht zum Teil seit Jahren unter Kontrolle pro-russischer Separatisten. Einige Städte – wie Mariupol am Asowschen Meer – liegen seit längerem unter schwerem Beschuss. Zehntausende Menschen sind eingeschlossen und konnten sich bislang nicht in Sicherheit bringen.

Auch am Sonntag lagen Meldungen über weitere Angriffe vor. So wurden in der Stadt Siewierodonezk in Luhansk nach Behördenangaben am frühen Morgen eine Schule und ein Wohnhochhaus beschossen. “Glücklicherweise keine Verletzten”, schrieb Gouverneur Gaidai auf Telegram. Beim Beschuss der Stadt Derhatschi in der nordöstlichen Region Charkiw seien zwei Menschen getötet und mehrere weitere verletzt, teilte der Gouverneur der Region, Oleh Synjehubow, auf Facebook mit. Russische Truppen hätten 66 Artillerieangriffe in mehreren Gebieten ausgeführt. “Wie Sie sehen können, ‘kämpft’ die russische Armee weiterhin mit der Zivilbevölkerung, weil sie an der Front keine Siege errungen hat.”

WEITERE LEICHENFUNDE NAHE KIEW

Die Aufrufe zur Evakuierung erhielten am Freitag eine neue Dringlichkeit, als bei einem Angriff auf einen Bahnhof in Kramatorsk in der östlichen Region Donezk nach ukrainischen Angaben mindestens 52 Menschen getötet wurden. Bei den Opfern handelte es sich demnach vor allem um Frauen, Kinder und Ältere, die auf der Flucht vor der erwarteten russischen Offensive waren. Für weltweites Entsetzen sorgten in den vergangenen Tagen auch Leichenfunde in dem Ort Butscha bei Kiew, den bis vor kurzem noch russische Truppen besetzt hatten.

Am Sonntag entdeckten die Behörden in dem Dorf Busowa bei Kiew ein Grab, in dem mindestens zwei Menschen verscharrt gewesen seien. Busowa stand wochenlang unter russischer Besatzung. Während der Belagerung Kiews durch russische Truppen lagen etliche Gemeinden rund um die Hauptstadt unter ständigem Beschuss – darunter Makariw, Butscha, Irpin und Dmytriwka. Nach dem Abzug der russischen Soldaten wurden bereits mehrere Massengräber und zahlreiche zivile Todesopfer gefunden.

Unabhängig lassen sich die Angaben oft kaum überprüfen. Die russische Regierung, die von einem militärischen Sondereinsatz in der Ukraine zu deren Entmilitarisierung und Entnazifizierung spricht, hat Angriffe auf Zivilisten wiederholt bestritten. Die Ukraine und westliche Staaten bezeichnen die russische Invasion als nicht provozierten Angriffskrieg. Mehr als vier Millionen Menschen sind inzwischen ins Ausland geflohen. Tausende wurden getötet oder verletzt. Städte wurden in Schutt und Asche gelegt, ein Viertel der Bevölkerung wurde obdachlos.

SELENSKYJ: RUSSLAND HAT EUROPÄISCHES PROJEKT IM VISIER

Selenskyj erklärte in einer Videobotschaft, die Aggression Russlands gelte nicht nur seinem Land, sondern ganz Europa. Er rief den Westen erneut auf, der Ukraine mehr Waffen zu liefern und ein vollständiges Embargo auf Energielieferungen aus Russland zu verhängen. Die Gewaltanwendung Russlands sei eine Katastrophe, die unweigerlich alle treffen werde. “Russlands Aggression sollte nie nur auf die Ukraine beschränkt sein (…), das gesamte europäische Projekt ist ein Ziel für Russland.”

Russland könne es sich noch immer leisten, in Illusionen zu leben und immer mehr Soldaten und Ausrüstung in die Ukraine zu schaffen, sagte Selenskyj weiter. “Und das heißt, wir brauchen noch mehr Sanktionen und noch mehr Waffen für unseren Staat.” Am Sonntag telefonierte Selenskyj mit Bundeskanzler Olaf Scholz. In dem Gespräch ging es nach Angaben einer deutschen Regierungssprecherin unter anderem um “Möglichkeiten der weiteren Unterstützung der Ukraine”.

Russland versucht unterdessen nach britischen Angaben, die zunehmenden Verluste seiner Invasionstruppen durch Soldaten auszugleichen, die seit 2012 aus dem Militärdienst entlassen wurden. Das Militär bemühe sich, seine Kampfkraft zu stärken. Dazu gehöre auch der Versuch, Rekruten aus der von Russland gestützten und international nicht anerkannten Region Transnistrien im Osten der Republik Moldau zu gewinnen. Zu dieser Erkenntnis sei der britische Militärgeheimdienst gelangt, wie das Verteidigungsministerium in London mitteilte. Moldau grenzt im Westen an das EU-Mitglied Rumänien und im Osten an die Ukraine. Das kleine arme Land hat zahlreiche Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen.

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